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Sendung vom 08.12.2005
25 Jahre Irren-Offensive

Die Irrenoffensive feiert in diesem Jahr ihr 25jähriges Jubiläum. Aus diesem Anlaß gab es am 26. November in Berlin im Pallast ein großes Fest mit 200 Gästen und die Verleihung des Freiheitspreises der Irrenoffensive an den engagierten Rechtsanwalt Thomas Saschenbrecker für seine Verdienste um "Subversive Rechtskunde". Unseren Zuhörern wollen wir in der heutigen Sendung mit einigen Tonmitschnitten einen Eindruck von der Veranstaltung verschaffen.
01 (Musik) Rolling Stones: Can't You Hear Me Knockin'


02 25 Jahre Irren-Offensive: Festrede von Gert Postel 10:54 Audio Text
03 (Musik) Helge Schneider: Sex Machine 01:54

04 Freiheitspreis der Irren-Offensive: Laudatio von Wolf-Dieter Narr 16:46 Audio Text
05 (Musik) The Notwist: Choc


06 (Musik) Art Brut: My Little Brother 02:23

07 Freiheitspreis der Irren-Offensive: Rede von Thomas Saschenbrecker 04:39 Audio Text
08 (Musik) Beasty Boys: Fight For Your Right 03:29

09 (Musik) Beatsteaks: Hand in Hand 02:41

10 (Musik) Boss Hoss: Hey Joe 04:04

11 (Musik) Angelika Express: Geh doch nach Berlin 02:44

12 (Musik) Art Brut: Moving to L.A.


25 Jahre Irren-Offensive: Festrede von Gert Postel
Länge 10:54
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Die Festrede zum 25 jähriges Jubiläum hielt Gert Postel, der berühmte Briefträger. Zusammen mit dem Hauptmann von Köpenick, der ein ganzes Militärgehabe der Lächerlichkeit Preis gegeben hat, wird er als der bekannteste Hochstapler bezeichnet. Tatsächlich hat er eine ganz außerordentliche wissenschaftliche Leistung vollbracht: er hat den experimentellen Nachweis erbracht, dass es kein psychiatrisches Wissen gibt. Auf der Seite der Opfer war dies durch das Rosenhan-Experiment mit den sich anschließend der Simulation bezichtigenden Personen schon einmal versucht worden. Aber Gert Postel ist mehrfach der entscheidende Beweis auf der Täterseite gelungen: dieses Experiment gelang Gert Postel nur durch einen existentielle Einsatz, den er mit 3 jährigen Knast bezahlt hat.

Wenn die würdigsten Ärzte die sind, die im Selbstversuch ihre Therapien erproben, so gehört Gert Postel mit seinem Nachweis der Nichtexistenz psychiatrischen Wissens in das Pantheon der Medizin und er sollte dafür endlich den Medizin-Nobelpreis erhalten. Hier seine Festrede auf die Irrenoffensive:

Liebe Gäste und Freunde der Irren-Offensive,

Ich freue mich sehr und empfinde es als eine Ehre, bei diesem Fest die Festrede halten zu dürfen. Es ist eine öffentliche Demonstration, dass die Irren-Offensive, und das, was ich inszeniert habe, an einem Strang zieht: einer gewalttätigen Praxis der Psychiatrie das Handwerk zu legen.

Bemerkenswerterweise haben die Irren-Offensive und ich, ohne dass wir voneinander wussten, praktisch zeitgleich Anfang der 80er Jahre auf unterschiedlichen Wegen begonnen, der Psychiatrie in den Arm zu fallen. Während die Irren-Offensive mit Hausbesetzung, Psychiatrie-Besuchen und Zeitung als Gruppe nicht nur in Berlin, sondern auch z.B. beim Gesundheitstag 1981 in Hamburg in Aktion trat, habe ich als Amtsarzt in Flensburg mit Mitteln, die ein Richter später leider für unlauter erklärte, unmittelbar die Zwangseinweisungsrate zwar nicht gleich um 100%, aber doch um 86% gesenkt.

Die Irren-Offensive hat dreierlei erreicht:

  1. Sie bewies durch ihre bloße Existenz, wie falsch die Verurteilungen durch die psychiatrischen Sprechblasen-Artisten sind, wenn sie den Betroffenen ihre sozialen Fähigkeiten absprechen. In der Irren-Offensive hat sich unabhängig und gegen irgendeine pädagogische oder andere Aufsicht eine Gruppe organisiert. Das 25jährige Jubiläum ist nun der Beweis, dass dies trotz widriger Bedingungen langfristig erfolgreich gelungen ist.
  2. Die Irren-Offensive hat einen Namen gewählt, der aufhorchen lässt, der sie heraushebt, ja in Gegensatz bringt, zu einem wohlgefälligen Opferstatus und der damit verbundenen Jammerei. Von der Psychiatrie werde ich auch deshalb gehasst, weil ich als einer ihrer Oberärzte intimes Wissen über diese Gilde erlangt habe und deshalb darüber berichten kann, wie das mitleidige Gesicht, dass sie dann gelegentlich aufsetzen, tatsächlich rein zynisch ist: eigentlich denken diese Ärzte: "lass mich doch bloß mit dem Gewimmer in Ruhe, es ändert sowieso nichts an der nächsten Depot-Spritze". Die Irren-Offensive dagegen stiftet Unruhe, beschäftigt sich weniger mit sich selbst, als dass sie den Filz aus Psychiatern und Richtern - da ist die weibliche Form immer mitgedacht - in die Defensive bringt. Sie kündigt sich ja schon von vornherein, ganz offen, als Offensive an. Das schafft allerdings Erwartungen, denen sie dann selbst gerecht werden muss.
  3. Womit wir zum Kern des Ganzen kommen: Die Irren-Offensive hat durch das Agieren als politische Gruppe Hand an die Wurzel der psychiatrischen Gewalt gelegt: Denn treibende Kraft der psychiatrischen Gewalt ist ein politischer Wille und ein Herrschaftskalkül, das, vom Gesetzgeber verabschiedet, in gesetzliche Regelungen gegossen wurde. Täglich wird damit der psychiatrischen Gewalt von Richtern die Legalität verschafft. Mit ihrem politischen Ansatz hat sich die Irren-Offensive zur Avantgarde der Betroffenen gemacht, weil eine politische Frage, wie es die Abschaffung der psychiatrischen Sondergesetze nun mal ist, eben nur mit politischen Mitteln adäquat gelöst werden kann.

Die Irren-Offensive hat ein klar umrissenes Ziel: Abschaffung der Psychiatrie in all ihren heimtückischen Formen. Dieses Ziel steht aber nicht im Vordergrund - es ist vielmehr ein Ziel, auf das zurück geschlossen werden kann, weil die Irren-Offensive laut eigenem Bekunden qua Satzung eine Psychiatrie, die auf Zwang und Gewalt basiert, als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bezeichnet, da, ich zitiere: "sie Individuen den Status eines Menschen mit seinen unveräußerlichen Menschenrechten vorenthält, indem sie deren Seele auf eine biologisch-medizinische Weise als "krank" bezeichnet und von einer biologisch-medizinischen "geistigen Krankheit" spricht, und damit juristisch alle Arten von Gewalt gegen sie rechtfertigt."

Insofern beruft sich die Irren-Offensive in ihrem Handeln zentral auf die Menschenrechte und von dieser Basis aus attackiert sie ganz spezifisch Zwang und Gewalt in der Psychiatrie, also das, was Michel Foucault das "Kerkersystem mit Folterregime" genannt hat. Es geht ihr also zunächst mal nur um die Abschaffung der Gewaltmaßnahmen der Psychiatrie, oder um es auf ihren Begriff zu bringen, die Abschaffung der Zwangspsychiatrie. Ganz konkret heißt das: Abschaffung aller Sondergesetze für Menschen, die von Psychiatern zu "psychisch Kranken" erklärt wurden. Daraus folgt logischerweise, dass eine solche Bezeichnung - ich würde schon eher sagen, eine solche Verleumdung - als "psychisch Kranker" nicht mehr gegen das Einverständnis des Betroffenen gemacht werden könnte, und dann erst recht nicht mehr zu einer Akte führen kann, die dem aktenkundig Gewordenen bisher lebenslang anhängt. Diese diagnostische Vergewaltigung wird unmöglich, sobald kein Arzt eine gesetzliche Grundlage bzw. richterliche Genehmigung für eine Zwangseinweisung und damit wiederum logisch verbundene Zwangsbehandlung und Zwangsbetreuung mehr hat. Dann allerdings wird es auch keine Psychiatrie mehr geben, weil sie die scheinbare "Objektivität" nicht mehr erzwingen kann, die für eine Krankheitsdefinition unerlässlich ist. Alle wissen, dass sich die psychiatrische Diagnostik selbst ad absurdum geführt hatte, als ich einen Kollegen fragte: "Was mache ich denn, wenn der Patient schweigt?" Und er darauf antwortete: "dann schreiben sie eben, er hat eine symptomschwache autistische Psychose."

Das Ziel ist also, dass es keine psychiatrischen Sondergesetze mehr gibt, sondern, wenn überhaupt, können psychiatrische Zwangsmaßnahmen nur noch durch ein jeweils individuelles, positives psychiatrisches Testament privatautonom autorisiert werden, etwa wie jedes sado-masochistische Sexualspiel. Auf dem Weg dahin, ist dann allerdings der umgekehrte Fall auch schon ein Zwischenerfolg, wenn also trotz bestehender psychiatrischer Sondergesetze durch eine Vorausverfügung jede psychiatrische Zwangsmaßnahme rechtsverbindlich untersagt werden kann. Der erste Anlauf dazu war das von Prof. Thomas Szasz 1981 vorgeschlagene und von der Irren-Offensive 1987 ins Deutsche übersetzte und herausgegebene "Psychiatrische Testament". Da es keine Rechtswirksamkeit erlangte, gelang der Durchbruch an dieser Stelle aber erst 1999 in Zusammenarbeit mit dem vorhin ausgezeichneten Thomas Saschenbrecker durch eine spezielle Form der Vorsorgevollmacht.

Endlich war das Schlupfloch aus dem psychiatrischen Zwangssystem gefunden. Es bekannt gemacht zu haben, ist ebenfalls das Verdienst der Irren-Offensive.

Ich könnte noch viele Impulse benennen, die die Irren-Offensive gegeben hat und die zu Spin-Offs geführt haben. Man kann sie in dem Sammelband ihrer 12 Zeitungen und in der Internetpublikation nachlesen, aus denen auch ich mich schlau gemacht habe. Außerdem läuft ja nachher auch noch der Film über das Foucault Tribunal.

Ich möchte mich stattdessen in dieser Festrede lieber dazu äußern, wie die Auseinandersetzung mit der Psychiatrie sich nun weiter so zugespitzt hat, das es heute einen wirklichen Grund zum Feiern gibt: Das Oberlandesgericht Celle hat am 10. August dieses Jahres in einem Aufsehen erregenden Urteil festgestellt, dass hunderttausendfach praktizierte Zwangsbehandlung rechtswidrig und gar nicht genehmigungsfähig ist. Es stützt sich in seinem Urteil auf ein Urteil des Bundesgerichtshof aus dem Jahr 2000, das damals zwar nur die ambulante Zwangsbehandlung als nicht genehmigungsfähig verurteilt hat, aber die Begründung für das Urteil aus Celle ist die Gleiche wie beim BHG Urteil: Für einen Grundrechte verletzenden Eingriff des Staates - und ich füge hinzu: so dieser Eingriff denn überhaupt legitimiert werden kann - ist ein explizites Gesetz notwendig.
Dieses existiert schlichtweg nicht.

Bemerkenswert ist allerdings, dass das erst 8 Jahre nach Einführung des neuen Betreuungsrechts den Richtern am Bundesgerichtshof aufgefallen ist und es jetzt nochmals 5 Jahre gebraucht hat, bis das Celler Oberlandesgericht bei stationär durchgeführten Zwangsbehandlungen ebenfalls entsprechend geurteilt hat. Ich habe ja bekanntlich auch schon mehrfach Bekanntschaft mit der Justiz gemacht, aber wie die Justiz in der Psychiatrie die systematische und hunderttausendfache schwere Verletzung der Grund- und Menschenrechte aktiv deckt, das spottet jeder Beschreibung.

Obwohl durch das Urteil nur die Zwangsbehandlung endlich als Unrecht erkannt wird, zieht es der Zwangspsychiatrie insgesamt die Beine weg. Das Tückische bei der Psychiatrie ist ja, dass sie sich als medizinische Disziplin ausgibt, obwohl sie tatsächlich nur Teil der Ordnungsmacht ist. Diese falsche Fassade hat es mir ja so leicht gemacht, als gelernter Postbote verschiedentlich unerkannt den Psychiater zu spielen, nur weil ich mir deren stereotypen Sprechblasen gemerkt habe. Das gute an der falschen Fassade ist, dass sie für die Psychiatrie nun zur Falle wird, aus der sie nicht mehr heraus kommt: In dem Moment, wo die Zwangsbehandlung fällt, wird die Zwangseinweisung von einer angeblich medizinisch begründeten Maßnahme zur strafenden Freiheitsberaubung. Dafür kann aber keine Krankenversicherung zur Kasse gebeten werden. So wird es einen Dominoeffekt geben: Aus keiner Zwangsbehandlung nach Betreuungsrecht folgt, keine Zwangseinweisung nach Betreuungsrecht, da die Krankenkassen keine Strafanstalten bezahlen. Wenn betreuungsrechtlich Zwangsbehandlung nicht mehr geht, wird sie als schwere Grundrechtsverletzung auch nach den PsychKGs unter Druck geraten, da das Unterbringungsrecht der Länder zum Betreuungsrecht des Bundes subsidiär ist. Ohne Zwangsbehandlung nach PsychKG wird aber auch die Zwangseinweisung nach PsychKG fallen.

Übrig bleiben am Ende Pillen nur nach Gusto und psychiatrische Heilkunst als Quacksalberei.

Schöne Aussichten und ein großartiger Erfolg der Irren-Offensive in nur wenigen Jahrzehnten.

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(Musik) Helge Schneider: Sex Machine
Album: Es rappelt im Karton (1995)
Länge 01:54

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Freiheitspreis der Irren-Offensive: Laudatio von Wolf-Dieter Narr
Länge 16:46
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Die Irrenoffensive hat nicht nur gefeiert, sondern auch einen Preis verliehen. Ihr Freiheitspreis "Die goldene Taschenlampe" ging in diesem Jahr an den Rechsanwalt Thomas Saschenbrecker für seine Verdienste auf dem Gebiet der "Subversiven Rechtskunde". Der Preis wurde nach Thomas Szasz im Jahr 2002 zum zweiten Mal verliehen. Er ist eine Geste des Dankes an Menschen, die uns ganz wichtige Unterstützung geleistet haben.

Die Laudatio auf Thomas Saschenbrecker hielt der Berliner Politologie-Professor Wolf-Dieter Narr, der selbst seit vielen Jahren ein enger Verbündeter an der Freien Universität ist. Insbesondere hat Wolf-Dieter Narr als verantwortlicher Organisator des Russel-Tribunals dieses erst möglich gemacht und mit seinem Beitrag in der letzten Ausgabe der Zeitung der Irrenoffensive zu psychiatrischer Misshandlung und der Folter ganz deutlich die Verletzungen der Menschenrechte durch die Zwangspsychiatrie angeprangert. Hier nun Ausschnitte aus der Laudatio:

Rede auf Thomas Saschenbrecker,
der heute den zum zweiten Mal vergebenen
Freiheitspreis der Irren-Offensive
für Subversive Rechtskunde erhält.

Und wie sich versteht, wird diese Rede von einem wahrhaften Narren gehalten, der sich an das Motto als regulatives Prinzip hält:

"Kinder und Narren sagen die Wahrheit!"

Das ist, zum ersten, das faszinierend Schwierige und schwierig Faszinierende
Mit den konkret allgemeinen und vor allem allgemein konkreten Menschenrechten
Der Universalität des Besonderen, jedes Menschen als eines abweichenden Falls,
Dass sie nicht zerschnibbelt, gewibbelt, noch punktuell gehalten werden können.
Dass das eine des anderen stützende Substanz und substantielle Kontrolle ist:
Wer Freiheit will, indes Gleichheit nicht, der ist als Neutrum
Keines Menschenrechtes Gast.

Wer Freiheit nur mit dem Zwang erreicht, und sei er fürsorgebesoffen übervoll,
Der hat des anderen Kreuz gebrochen, allein mit dem Diplom
Sich selbst noch schließenden Gefängniswärters gewaltgeeicht.

Das ist, zum zweiten, das bedrohlich Schützende staatlich fest gesatzten Rechts,
das erst zum Rechtstaat wird, indem ihm überall Gewalt in notfalls physischer Gewalt zugrunde liegt und wirksam wird im Zwangsgriff todesdrohend auf den Menschen, staatsgemäß normal nicht voll frisiert,
Dass dieses Zehnbuchstabenwort - "Rechtstaat" - und seine Walter so tun, als läsen täglich sie kathol´sche Staatenmesse: Gewalt wird transsubstantiiert:
Als sei sie Recht
und Gerechtigkeit noch dazuhin.
Arglist´ge Herrschaftstäuschung.

Das ist, zum dritten, der fortgesetzte Trick, genannt Verrechtlichung menschlichen Daseins, als würde Zwang ins Rechte transformiert und paragraphenviel so präzise soßisiert (saucisiert), dass Menschenrechte sind,
und ganz rechtsicher für Bürgerin und männliches Pendant.
Als rännen rechtsvertäuend noch und noch des Bürgers Freiheitsräume zusammen einem Syndrome gleich:
Gerechtigkeit im Hilfsersatz, die jenseits alte anarchist´scher´ Lehr, die gegenseit´ge Hilfe vom ich zum du kontrollenfrei lebte,
sich in die Sicherheit ergießt,
festgemauert im bürokratisch-medizinisch-polizeilichen Komplex.

So ist die edle Praxiswelt der Menschenrechte voll des argen Goodspeak, die schlimme Praxis der Entmündigung im Unterholz.
Und nahezu niemand ist firm, ihr zu entrinnen.
Das lange Ende bürgerlicher Freiheitssicherung in freier Praxis abweichender Personen
Im cordon sanitaire verdichteter Sicherheitsagenturen, ob staatlich, ob privat gleichviel.

-*-

Das ist der Hintergrund, vor dem die Leistung Thomas Saschenbreckers ihr Profil gewinnt.
Als hätte der Gesetzgeber des Bundes, nichts mehr zu regeln.
Als vergäßen die Abgeordneten, nur ihrem gewissenhaften Positionserhalt verantwortlich,
kaum ihrer Erinnerung und ihrer schweren Aufgabe, Grundrechte zu kennen und die Probleme auszuloten, in die sie mit rechtlichen Leitern steigen wollen, was sie selbst oder ihre Vorgänger im gleichen oder verbundenen Gebiet geregelt haben. Aber es ist auch verdammt und verwirrend schwer, den Überblick zu behalten.
Als träfe Gleiches auf die Länder zu und ihre armen, überforderten Parlamente.
Also ging der Bundestag, dahinter wie sich versteht, das Bundesministerium für Justiz und alle möglichen interessenüberbürdeten Lobbygruppen am Anfang des neuen Saeculums und 3. Jahrtausends fortgeschrittener Zivilisation darauf aus,
und folgte wenig später von den Ländern vorneweg das große Land der Bremer,
das schlimme Rechtsloch ambulanter Zwangsmedikation sogenannt geistig Kranker zu stopfen. Im Bund mit Hilfe eines Zusatzparagraphen zum § 1906 als § 1906a BGB. Der Bundestag und seiner hintersassigen Interessenten taten es rechtsvergessen bis zum einschlägigen BGB, sie hatten das treffliche Urteil des BGH vom 11.10.2000 schon wieder ausgelöscht. Die Bremer folgten 2004/2005, nachdem sie 2002 Zwangsregelungen im ambulanten Bereich noch und zurecht als kropfunnötig und grundrechtswidrig erkannt hatten. Ein Fall, eine mediale Platzpatrone. Und schon waren Parlament und Regierung gewendet. So schnell geht das.

Hat man die Vorhaben verfolgt, liest man vor allem Thomas Saschenbreckers ungewöhnlich dicht argumentierende, alle Rechtstaubecken ausleuchtende und aussäubernde Gutachten in Jahresfolge 2004 und 2005,
dann werden die Beweggründe offenbar die zu den Vorhaben neuer Zwangsgesetze führten. Dann wird einsichtig, warum wichtig es war und bleibt, auf gesetzliche Vorhaben dieser Art sogleich zu reagieren und rufkräftige Wachsamkeit zur ersten bürgerlichen Tugend zu erheben.
Dann wird glücklicherweise auch einsichtig, warum es nicht zuletzt aufgrund von Thomas Saschenbreckers anwaltlicher Tätigkeit und seiner geradezu lückenlos grundrechtlich fundierten Rechtsargumentation gelungen ist, diesen Anschlag der Zwangsvorstellungen zu stoppen. Darin ist auch ein kleiner Funken Hoffnung verborgen. Dass es immer noch genügend Abgeordnete andere Berufspolitiker und Richterinnen/Richter gibt, die die Grundrechte nicht vergebens gelesen haben.

Die Beweggründe der Zwangsgesetzebetreiber waren und sie bleiben verborgen offen weiter, selbst wenn sie jetzt, glücklicherweise nicht durchdrangen:

  • Angst, wie in allen Fällen des starken Abweichens, im Zusammenhang sogenannt psychiatrischer Fälle im besonderen, Angst, sage ich vor sich selbst. Das macht die Besonderheit von Geschichte und Gegenwart der Psychiatrie aus, in deren Umkreis nicht zufällig der Gedanke des Panoptikums und totaler Institutionen entstanden ist und bis heute betrieben wird. Darum ist übrigens all das, was rund um die Psychiatrie kreist menschenrechtlich so symptomatisch abgründig und signifikant.
  • Politische Panik, wenn medial inszenierte Paniken klimakatastrophengleich Berlin oder Bremen unter Wasser setzen. Das zeigt, wie tief die Staustufe institutionalisierter politischer Vernunft liegt. Die Flutkatastrophen ereignen sich im Nu;
  • Standesspezifische und selbstredend materielle Interessen all derjenigen die spitzenberuflich im Gesundheitssystem und der Psychiatrie zumal tätig sind und meist gutes Geld verdienen.
  • Der große und immer größer werdende Komplex der allseits vorweg Staat und gesellschaftliche Normalität, nicht zuletzt ihre kapitalistischen Spitzeninteressen sichernden Prävention mit ihrer proaktiven Zuspitzung.

Mit dieser Kehre zur Prävention, die in alle Fugen der Gesellschaft dringt, die Innen- und Außenpolitik, insbesondere in der "Fremdenverfolgung", aber auch der Verfolgung von uns allen als "Schläfern" mehr als zuvor zusammenkoppelt, geht eine doppelte Verschlimmböserung allen Rechts und damit auch aller exekutiven Praxis einher. Zum einen: Grundrechte werden mehr als zuvor zu Einstiegsrechten staatlicher und privater Sicherung. Nach dem Motto: um deine Freiheit zu sichern, muss ich sie aufheben. Zum anderen: aus möglichst rechtlich genau formulierten Regeln, die bürgerlicher Freiheit und Sicherheit dienen, werden kleine und umfänglichere bürokratische Ermächtigungsgesetze. Das Opportunitätsprinzip wird zur Legalformel. Das zeigen nicht nur die hier kritisch aufgespießten Vorschläge der ambulanten Zwangsmedikation.

Saschenbreckers Leistung bestand und besteht unter anderem darin:

  • als trefflicher Rechtskundiger die Widersprüche des Gesetzgebers herausgearbeitet zu haben, die Selbstverwirrung desselben - aber nicht auf eigene, auf Kosten derjenigen, die ambulant zwangsbehandelt werden sollten bzw. zuvor, vor dem BGH-Spruch von 2000 schon zwangsbehandelt worden sind;
  • präzise herauszuarbeiten, wie Grundrechte mit öffentlichen Hilfs- und Sicherheitsformeln durchgehend im Goodspeak ausgehebelt werden. Hierbei ist Saschenbreckers Grundrechtsverständnis ohne Fehl und Tadel, ja er begeistert geradezu erneut, Grundrechte wahr- und ernst zu nehmen: das Grundrecht der Selbstbestimmung, die Voraussetzung und das Ende aller Freiheit. Und das Grundrecht auf Integrität der Person, auf ihre Unverletzlichkeit. Versteht man diese beiden recht, dann folgen allen anderen schier wie von selbst;
  • witzig, wie man im 18. Jahrhundert formuliert hätte, aufzuweisen, wie die Gesetzgeber sich in Widersprüche verheddern und ihre eigenen, gestern verabschiedeten Normen schon wieder vergessen haben;
  • all diese und andere Qualitäten der Saschenbreckerschen Einlassungen, die ich, hätte ich mehr Zeit, gerne schilderte, weil wir alle daraus lernen könnten, haben zur Folge: dass die Argumente der Zwangsvollstrecker des Rechts zerfallen wie schimmlige Pilze. Solche schimmligen Pilze darf man noch nicht zum Recht erheben. Was aber, wenn nicht Leute wie Saschenbrecker da wären und zeigten, wie das rechtliche Rumpelstilzchen wahrhaft heißt?

Der Jurist Saschenbrecker, der uns entgegentritt, ist darum so hervorragend, weil er mehr ist als ein Jurist. Er weiß, worauf schon Lichtenberg aufmerksam machte: wer nur Chemie versteht, versteht auch die nicht recht; wer rechtserfahren aber phantasievoll sieht, wie sich Unrecht ins Recht stiehlt, wie Recht materiell und formell entrechtlicht wird, der kann die Gefahr von Willkürakten gegen Menschen in glänzenden rechtlichen Gamaschen klar, deutlich und überzeugend erkennen.

Warum aber verteilen wir heute Abend – mit mir nicht als Preis-, wohl aber als Mundschenk – einen Preis, auch wenn der Preis konstruktiver Subversion gilt?
Dieser Preis ist kein Teil eines Macht- und Reputationsmanagements. Er dient der Anerkennung einer raren Leistung im Abseits, uns allen zum Ansporn, nicht abzulassen, uns zu wehren, mitten in dieser Gesellschaft, mit ihren rechtlichen Mitteln, aber mit einer menschenrechtlichen Substanz und Politik, die weit darüber hinausragt.

Der Preis gilt Thomas Saschenbrecker im Namen all der medizinisch-psychiatrischen Gutachter und Therapeuten, weil er sie vor der argen Hybris ihrer indezenten Selbstüberschätzung und ihrem antitherapeutischen Zugriff nach polizeilichen Zwangsmitteln bewahrt.

Der Preis gilt Thomas Saschenbrecker im Namen all der Gesetzgeber, weil er sie vor den Folgen ihrer Panik rettet und ihren eigenen Kenntnismangel in Sachen Recht, Grundrechte an erste Stelle rückt.

Der Preis winkt Thomas Saschenbrecker dafür, dass er um den Kern alles Rechts: die Grundrechte als aktive Rechte der Bürgerinnen und Bürger, auch ohne Papiere weiß. Darum schützt er sogar die Exekutive vor sich selbst, vor ihren eigenen Zwangstorheiten.

Der Preis ehrt Thomas Saschenbrecker als einen Verfassungsschützer, wenn es denn einen gibt. Grundrechtsfundiert, mit öffentlichen Informationen, öffentlichen Argumenten für die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger.

Die Liste all derer, die Thomas Saschenbreckersche Leistungen loben und preisen müssten, ist länger, als Leistungen, die für sie getan sind. Diejenigen sollen ihm am Ende aber zuerst den Preis überreichen, für deren Freiheit, auch und gerade, ihre Gesundheit selbst zu bestimmen, er sich am meisten verdient gemacht hat. Und also sind wir ihm alle dankbar. In Zeiten der Entwicklung hin zur prädiktiven Medizin, in Zeiten, da an Stelle der ohnehin als Bürgerin nicht beachteten Patientin, eine elektronische Gesundheitskarte tritt, "gesund" für einen riesigen Gesundheitssicherungskomplex, in solchen Zeiten ist das, was Thomas Saschenbrecker gegen psychiatrischen Zwang geleistet hat, wider den Zwang zur Gesundheit, "forced to be healthy and free", nicht zu überschätzen. Eine Bresche, die es zu halten, zu verteidigen, zu weiten gilt.

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(Musik) The Notwist: Choc
Album: Soundtrack "Absolute Giganten"
Länge

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(Musik) Art Brut: My Little Brother
Album: Bang Bang Rock & Roll
Länge 02:23

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Freiheitspreis der Irren-Offensive: Rede von Thomas Saschenbrecker
Länge 04:39
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Lieber Prof. Narr, Lieber René, Lieber Uwe, ich darf mich ganz herzlich bei allen für den Preis bedanken. Meine Damen und Herren, ich bin mir durchaus bewußt, dass hinter diesem Preis Menschen stehen, Menschen, die vielleicht nicht so sehr im Rampenlicht unserer erfolgsorientierten Gesellschaft stehen, weil sie vielleicht "anders" sind, weil sie "merkwürdig" sind, weil sie "irre" sind, weil sie gesellschaftlich nicht konform sind, weil sie "verrückt" sind. Justiz, aber auch die Medizin, haben dies jahrzehntelang zum Anlaß genommen, diese Menschen als "krank", als "psychisch krank" zu diagnostizieren, und in der Konsequenz der Diagnose eine Vernunftshoheit über diese Menschen walten zu lassen, die "Heilung" bringen sollte.

Ob die jeweiligen Menschen das anders wollten, ob sie ihr Anderssein wollten, ob sie "verrückt", ob sie "irre" sein wollten, das hat überhaupt keinen interessiert. Das mußte ganz einfach so sein, da mußte Vernunft her, da mußten Gerichtsbeschlüsse her, da mußte ein Vormundschaftsgericht geschaffen werden, da mußten medizinische Sachverständigengutachten eingeholt werden. Und wenn diese medizinischen Sachverständigengutachten in unendlicher Vernunft zu dem Ergebnis kommen, da ist ein "psychisch Kranker", dann muß eben auch über diesen "psychisch Kranken" bestimmt werden.

Der "psychisch Kranke" oder den, den wir für einen "psychisch Kranken" halten, ist anders, er ist fremd, "irre", "verrückt", vielleicht auch irgendwie etwas ganz seltsames für uns, mit dem wir gar nicht so richtig zurecht kommen; er funktioniert nicht so, wie unserer Gesellschaft es so von ihm verlangt - und damit wird er "hilfsbedürftig". Jeder, der in der Gesellschaft nicht das darstellt, was vielleicht sein sollte, dem muß man helfen. Der Gesetzgeber macht sich es da einfach. Er leitet das aus dem Sozialstaatsprinzip her: wir haben eine Fürsorgepflicht, wir müssen uns um die Menschen kümmern. Dass diese Menschen eventuell. anders sein wollen, wie bereits gesagt, das spielt überhaupt keine Rolle, es wird einfach eine Pflicht abgeleitet, dem "psychisch Kranken" dann auch zu helfen. Und das auf eine Art und Weise von objektiver Vernunftshoheit, die mit Individualität, mit tatsächlichem Verrücktsein wenig zu tun hat.

In diesem Sinn sehe ich den Preis durchaus auch als Aufgabe, weiter zu machen, weiter zu machen mit dem, was wir erreicht haben. Ganz einfach schauen, was vor 5 Jahren war: wenn jemand "psychisch krank" war, dann hatte man darüber geredet, wie macht man das am besten, wie sucht man vielleicht mal einen Patientenanwalt; dieser Patientenanwalt vermittelt dann, ob wir die medizinische Verordnung ihm nicht irgendwie halb dosieren können, ob wir die medizinische Verordnung nicht irgendwie ein bißchen absetzen können.

Jetzt ist es anders. Der "psychisch Kranke", der für "psychisch Krank", für anders, für "verrückt", für "irre" gehalten wird, der hat durchaus Rechte. Er hat dieselben Grundrechte. Es gibt jetzt in der Justiz, auch in der Rechtsprechung, die Begriffe des "Rechts auf Krankheit". Es gibt den Begriff des staatlichen Zwangs, der nicht unbedingt über jeden walten darf. Viele "psychisch Kranke" haben das, was vor 5 Jahren oder vor 10 Jahren noch gewesen ist: diese unheimliche Gewalt, die da eingewirkt hat, ganz einfach jemand zu zwingen, Medikamente zu nehmen, jemand zu fixieren, jemand einzusperren, die haben es als sehr traumatisch, als sehr verletzend empfunden, und haben tatsächlich auch eine Rolle als Opfer eingenommen. Diese Opferrolle, die muß es heute nicht mehr geben, denn es gibt ganz einfach Grundrechte und die Grundrechte, auch eine medizinische Behandlung abzulehnen, auch das Anderssein sein, ganz einfach das für sich zu beanspruchen, die setzen sich auch in dem Bereich immer mehr durch.

Und dafür hat natürlich auch die "Irre"n-Offensive einen ganz, ganz riesigen Beitrag geleistet, indem sie nicht nachgegeben hat, indem sie vielleicht die äußere Grenze so ein bißchen einnimmt, auch heute noch, die äußere Grenzen im Sinne, dass sie sagt: man kann sich das nicht gefallen lassen, aber andererseits auch Rechte tatsächlich durchgesetzt hat und diese Rechte konsequent immer durchgesetzt hat ohne Konsense einzugehen - dahingehend, daß man ein bißchen Zwang vielleicht annimmt und im übrigen vielleicht da darüber redet, ob man dieses "bißchen" Zwang in eine dann sich geprägte Vernunft umwandeln kann.

Genau das ist eben nicht mehr der Fall. Anders sein, "irre" sein, "verrückt" sein, ist heutzutage ganz einfach gesellschaftlich beständig und hat auch rechtlichen Bestand. Auch der sogenannte "psychisch Kranke", dem diese Diagnose irgendwann einmal durch ein unsägliches Gutachten aufgezwungen wurde, auch der kann durchaus Grundrechte, kann alle Grundrechte genauso inzwischen sicherlich für sich beanspruchen. In diese Richtung und mit diesem Ziel, denke ich, sollte man ganz einfach weiter machen.

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Album: Bang Bang Rock & Roll
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