Mythos "Kunst und Wahn" I

Heute im Dissidentenfunk: Irrenoffensive – Oper von 1990 bis 1996.

Es gibt nicht nur eine Punkgruppe mit dem Namen "Irrenoffensive", sondern auch eine Opern-Collage mit diesem Titel. Hiermit beginnen wir eine lockere Folge zum alten Mythos "Kunst und Wahn". Dieser Mythos hat schon lange ausgedient. Nur noch reaktionäre Psychiater geilen sich daran auf.

Die Erosion dieses Mythos beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts im Dadaismus. Das Dada-Manifest bringt es auf den Punkt:

Wir schaffen die wahre Kunst der Abweichung, der Entgrenzung. Was wir zelebrieren ist eine Buffonade und eine Totenmesse zugleich. Wir zerstören die Schubladen des Gehirns und die gesellschaftliche Ordnung. Ich bin Ich und Nicht-Ich! Bin Gott, Geist und Materie zu gleicher Zeit! Die Leidenschaften haben immer recht und unser Fehler ist nicht, zuviel zu begehren, sondern zu wenig!

Zum Einstieg vor der Oper ein Höhepunkt aus der Zeit des gelebten Irrsinns des Dadaismus. Anette zitiert aus "Lipstick Traces" von Greil Marcus.

Johannes Baader, die Behörden hatten ihn für unzurechnungsfähig erklärt; er hatte, um Huelsenbeck zu zitieren, den "Jagdschein"; da man ihn im Gegen­satz zu den übrigen Mitgliedern des Berliner Club Dada für seine Taten nicht zur Rechenschaft ziehen konnte, durfte er risikolos Dinge tun, von denen seine Gefährten nur träumten. Als Oberdada machte er sich das zunutze.
Baader ging, einmal losgelassen, seine eigenen Wege. Bevor er von der Dada-Krankheit befallen wurde, war er ein vielversprechender Architekt gewesen, doch seine Verrücktheit wurde nicht durch Dada hervorgerufen – Dada gab ihr lediglich eine Gestalt.
Er kam 1875 zur Welt und war mit Abstand der älteste der Dadaisten. 1956 starb er, mittellos und von der Welt vergessen. Immer wieder war er in Nervenheilanstalten eingewiesen worden, und als alten Mann konnte man ihn gelegentlich auf Parkbänken sitzen sehen, in Selbstgespräche vertieft ... anders als fast alle übrigen, die – nachdem sie den Schatten Dadas abgeschüttelt hatten – produktive und respektable Leben führten, bis in die siebziger Jahre hinein. Auch wenn Baader nach seinem Auftritt im Berliner Dom aus der Geschichte verschwand – genauer gesagt, aus den Standardwerken und Hagiographien zum Thema Dada –, brachte er es zu einem weiteren, beinahe völlig übersehenen Ruhmestag, der aber, was die Vieldeutigkeit betrifft, noch perfekter ist. Ein halbes Jahrhundert später erzählte Hausmanns Lebensgefährtin Vera Broido-Cohn die Geschichte:
Um 1930 begann der schließlich zur Machtergreifung der Nazis führende Aufstieg Hitlers. Eines der merkwürdigsten Symptome dafür, daß es mit Deutschland nicht zum besten stand, waren die erstaunlich vielen Menschen, die sich für Christus hielten... Jeder von ihnen hatte seine Apostel und Anhänger. Sie waren so zahlreich, daß sie eines Tages beschlossen, einen Kongreß der Christusse abzuhalten, um den wahren Christus unter den Scharlatanen zu ermitteln. Da sich dies im Sommer und in Thüringen – eine Gegend, die im Mittelalter das Zentrum radikalen Ketzertums, besonders des freien Geistes, war und seit dieser Zeit als Brutstätte religiösen Wahns galt – zutrug, schienen die Christusse wie Pilze aus dem Boden zu schießen. Die Versammlung fand auf einer großen Wiese in der Nähe einer Ortschaft statt, und Baader tat etwas Phantastisches. Da er damals Journalist war, hatte ihm die Lufthansa einen Ausweis zur Verfügung gestellt, mit dem er gratis jede Flugreise antreten konnte, die er wollte, wenn er zu einer wichtigen Massenveranstaltung in Deutschland mußte. Er rief die Fluggesellschaft an und fragte, ob man ihn nach Thüringen fliegen und mitten auf der Wiese absetzen könnte. Man war einverstanden.
Die Versammlungsteilnehmer standen auf der Wiese und bildeten einen riesigen Kreis. Jeder Christus trat in die Mitte, gefolgt von seiner Anhängerschar. Die Zuschauer drängten von hinten nach, und dann richteten sich alle Augen in die Höhe, um Baader vom Himmel kommen zu sehen. Er landete und machte sich von dannen. Sie sahen sein Gesicht und waren sprachlos.

Gesendet am 10.02.2005 im Dissidentenfunk (www.dissidentenfunk.de)

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