Interview mit Angela Ziemert, Richterin am OLG Celle

So skandalös wie leider alltäglich ist es, daß Menschen Zwangsbehandlungen in Einrichtungen der Psychiatrie unterzogen, d.h. gegen ihren Willen mit psychiatrischen Drogen vollgepumpt, stundenlang ans Bett gefesselt oder Elektroschocks ausgesetzt werden. Angeblich geschieht dies zu ihrem Wohl, in Wahrheit aber sind es die Interessen von sogenannten Betreuern und Psychiatern, die hier mit richterlichem Segen gegen die Betroffenen durchgesetzt werden.

Die Zwangsbehandlung ist ohne jeden Zweifel das gefährlichste, brutalste und bösartigste Mittel der Zwangspsychiatrie. Selbst wenn sie nicht angewendet wird, ist sie doch ein immer verfügbares Instrument, um damit Drohen zu können. Ziel der Zwangsbehandlung selbst, wie auch der Drohung mit ihr, ist die sogenannte "Krankheits- und Behandlungseinsicht", die Anerkennung der Autorität des Psychiaters und der Ideologie der psychischen Gesundheit.

Scheinbar war und ist dies legal. Das Oberlandesgericht Celle hat nun ihn einem wegweisenden Beschluß dieser Praxis die rechtliche Legitimität abgesprochen. Damit hat es für den Bereich der stationären Unterbringung nach Betreuungsrecht das wiederholt, was schon der Bundesgerichtshof im Jahr 2000 im Zusammenhang mit einer ambulanten Zwangsbehandlung festgestellt hatte: für diese Art tiefgreifender Veletzungen der Grundrechte bedarf es einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage, die es bisher aber nicht gibt.

Näheres zu diesem Beschluß sagt uns nun die Pressesprecherin des OLG Celle, Angela Ziemert, mit der wir vor dieser Sendung telefoniert haben:

Dissidentenfunk: Sehr geehrte Frau Ziemert, Sie sind die Pressesprecherin des OLG Celle. Wir freuen uns sehr, dass Sie zu diesem Interview bereit sind.
Wir möchten am Anfang noch einmal klarstellen, dass wir jetzt ausschliesslich über das Betreuungsrecht bzw. über Zwangsbehandlung bei einer Zwangseinweisung nach Betreuungsrecht sprechen und natürlich über den Beschluss Ihres Gerichts dazu.
Zuerst eine Nachfrage zu der meiner Ansicht nach entscheidenden Aussage im Urteil: Wird darin tatsächlich festgestellt, dass eine Zwangsbehandlung nicht nur wegen mangelnder Verhältnismäßigkeit, sondern wegen der nicht existierenden gesetzlichen Grundlage rechtswidrig ist?

Angela Ziemert: Die Frage der Verhältnismäßigkeit einer Zwangsbehandlung ist vom Senat in diesem Beschluss gar nicht erörtert worden. Er hat insofern lediglich festgestellt, dass es für die Verhältnismäßigkeitsprüfung, wenn man denn eine anstellt, darauf ankommt, dass man überhaupt den zugrunde zu legenden Sachverhalt ordentlich ausermittelt hat. Und da hat es dem Landgericht den Vorwurf gemacht, dass das nicht der Fall war.
In diesem Zusammenhang spielte die Verhältnismäßigkeit in dem Beschluss eine Rolle. Aber der Senat hat keine grundsätzliche Aussage zur Verhältnismäßigkeit von Zwangsbehandlungen getroffen.
Richtig ist aber, dass der Senat festgestellt hat, dass nach seiner Auffassung eine Zwangsbehandlung auf betreuungsrechtlicher Grundlage nicht zulässig ist. Und zwar aus dem Grund, weil es an dem dafür erforderlichen formellen Gesetz, das die Grundlage bilden müsste, fehlt.

DF: Das ist natürlich eine wesentliche Aussage!
Im Beschluss wird unter anderem auf ein Urteil des OLG München verwiesen, das in einem ähnlich gelagerten Fall zu einer ganz anderen Entscheidung gekommen ist, nämlich, dass eine Zwangsbehandlung durch die Regelungen des Betreuungsrechts gedeckt sei. Worin bestehen die wesentlichen Widersprüche der beiden Entscheidungen und wie bewerten Sie diese?

AZ: Es ist richtig, dass das Oberlandesgericht in München, genauso wie übrigens auch andere Oberlandesgerichte, z.B. Schleswig und Düsseldorf, hier zu einem anderen Ergebnis gekommen sind. Die Oberlandesgerichte halten nämlich die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Zulässigkeit der Unterbringung für ausreichend, um sie auch als Grundlage für eine ambulante oder stationäre Zwangsbehandlung heranziehen zu können. Das allerdings auch nur - das muss ich einschränkend sagen - nach besonderer Verhältnismäßigkeitsprüfung.
Trotzdem hat unser 17. Familiensenat des Oberlandesgerichts Celle das anders gesehen, weil er meinte, dass die Interpretation dieser Vorschriften aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch nach dem Wortlaut eben nicht ausreicht, um zu diesem Schluss zu kommen. Der Wortlaut des Gesetzes deckt nach Ansicht unseres Senats nicht die Auslegung, dass eine Zwangsbehandlung zulässig ist.

DF: Dabei stützt er sich ja auf das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 11.10. 2000 zur ambulanten Zwangsbehandlung; das ist ja ein ganz paralleler Fall. Kann also Ihrer Ansicht nach nun auch erwartet werden, dass der BGH seiner Linie in der Frage der stationären Zwangsbehandlung treu bleibt, falls es noch zu einer Vorlage kommen sollte?

AZ: Ich kann da natürlich nur spekulieren, ganz unverbindlich, weil ich natürlich nicht weiß, welche Entscheidung der Bundesgerichtshof dann im Fall der Fälle treffen würde. Ich vermute aber, einfach anhand der Argumentation, die der Bundesgerichtshof dort gewählt hat, dass er bei der Frage, ob es eine gesetzliche Grundlage nach Betreuungsrecht für die Zwangsbehandlung gibt, nicht unterscheiden würde, zwischen ambulanter und stationärer Zwangsbehandlung. Dementsprechend denke ich, dass er wohl zu dem selben Ergebnis kommen würde. Aber wie gesagt, das ist jetzt eine reine Spekulation.

DF: Keine Frage, aber die Argumentation ist ja tragend. Deshalb würden wir auch einschätzen, dass das eine dramatische Entwicklung wäre, wenn der BGH von dem, was er gesagt hat, nicht mehr abweichen würde.

AZ: So sieht das unser Senat auch. Also er sieht sich da durchaus auch mit der bisher vom Bundesgerichtshof vorgegebenen Linie und sieht jetzt eigentlich keinen Grund für die Erwartung, dass diese Linie, wie sie auch das OLG Celle eingeschlagen hat, eines Tages mal aufgehoben würde. Aber man weiß es natürlich nicht. Es käme jetzt deshalb darauf an, dass sich die Möglichkeit ergibt, diese streitige Rechtsfrage (und streitig ist sie ja dadurch, dass unterschiedliche Gerichte das unterschiedlich beurteilen) dem Bundesgerichtshof mal konkret vorgelegt wird. Wenn es dann so weit ist, dann wird es eben diese höchstrichterliche Entscheidung geben und dann wird es für alle Gerichte Klarheit geben, wie das auszulegen ist.

DF: Wie konnte denn so lange übersehen werden, dass Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen zwei unterschiedlich schwere und verschiedene Grundrechtseingriffe sind und für die Zwangsbehandlung keine explizite gesetzliche Grundlage existiert?

AZ: Ich denke, das ist keine Frage des Übersehens, sondern das ist einfach eine Frage, dass es hier zwischen verschiedenen Gerichten und Juristen einfach unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie bestimmte Vorschriften des Betreuungsrechts auszulegen sind. Das ist auch im Prinzip nichts ungewöhnliches, sowas gibt es im rechtlichen Bereich auch in anderen Rechtsgebieten zu bestimmten Rechtsfragen immer wieder, dass es unterschiedliche Gerichte gibt, die unterschiedliche Rechtsauffassungen zu einem bestimmten Punkt vertreten. Das wird man nicht einfach ausschliessen können. Man wird das dann jeweils nur dadurch lösen können, dass es entweder eine klar stellende Änderung des Gesetzes durch den Gesetzgeber gibt oder, wie ich es eben gerade gesagt habe, eine höchstrichterliche Entscheidung, die dann ein für alle Mal Klarheit für alle Gerichte schafft.

DF: Sehen Sie eine Entwicklung, die sich da abgespielt hat und welche Rolle hat es für dieses Urteil gespielt, dass eine der Richterinnen und Richter, die das Urteil gefällt haben, Mitglied der Niedersächsischen Besuchskommision ist und in dem Bericht dieser Kommision im Jahr 2003 festgestellt wurde (Zitat): "So wurde von verschiedenen Besuchskommissionen über richterlich nicht genehmigte geschlossene Unterbringung in Heimen oder von zwar gut dokumentierten, aber gerichtlich nicht genehmigten Fixierungen, in Kliniken berichtet, welche wiederholt oder über längere Zeit durchgeführt wurden und damit genehmigungspflichtig gewesen wären."

AZ: Ich habe darüber mit der betreffenden Berichterstatterin persönlich noch einmal gesprochen. Sie hat mir erklärt, dass man natürlich persönliche Erfahrungen nie ganz ausschalten kann. Jeder Richter hat natürlich bei jeder Rechtsfrage auch gewisse Vorstellungen aufgrund seiner eigenen Lebenssituation und seine Erfahrungen, die er im Leben gemacht hat. Aber die Tätigkeit in dieser niedersächsischen Besuchskommision hat für diese konkrete Entscheidung keine Rolle gespielt, weil es hier tatsächlich nur um die rein rechtliche Frage ging, ob in dem konkreten Fall die Zwangbehandlung rechtmäßig war. Und dafür war einfach nur rein juristisch zu untersuchen, ob es dafür eine rechtliche Grundlage gab oder nicht. Insofern ist das völlig unabhängig von etwaigen Erfahrungen, die die beteiligten Richter da mal gemacht haben.

DF: Es war ja in dieser Zeit auch das Urteil des Europäischen Menschengerichtshofes bekannt geworden. Sie würden also eher sagen, dass es sozusagen der "juristische Zufall" war, und darin nicht etwa eine Entwicklung sehen, die sich hier vielleicht zeigt?

AZ: Nein. Ich glaube, dass der Beschluß des 17. Senats, den sie hier ansprechen, nicht Ausdruck einer rechtspolitischen Entwicklung ist. Wobei ich damit jetzt nicht gesagt haben will, dass es nicht möglicherweise eine rechtspolitische Entwicklung gibt. Das übersteigt leider meine Kenntnisse. Das hat jedenfalls keinen Einfluss gehabt auf den Beschluss und auf das Ergebnis diese Beschlusses, weil es nur um die rein juristische Frage ging, ob die Vorschriften des Betreuungsrechts ausreichen, um eine Rechtsgrundlage für die Zwangbehandlung darzustellen oder nicht.

DF: Andererseits ist natürlich bedeutend, wenn Zwangsbehandlung rechtswidrig wäre. Eine rechtswidrige Handlung kann ja nicht einfach nichts Unbedeutendes sein, wenn sie dann vollzogen würde.

AZ: Es kann natürlich hier in diesem konkreten Fall, wenn sich herausstellen sollte, dass die Zwangbehandlung in dem Fall, der hier entschieden worden ist, tatsächlich rechtswidrig war (das ist ja jetzt nochmal an das Landgericht zurückverwiesen worden; noch gibt es ja keine endgültige Entscheidung), dann kann das ja zumindest zivilrechtliche Folgerungen haben, nämlich dergestalt, dass da möglicherweise ein Schadensersatzanspruch des Betroffenen besteht. Also soweit kann man das schon sagen, dass das in der Konsequenz herauskommen könnte. Alles andere muss man aber wirklich in der rechtlichen Entwicklung dann sehen. Das kann ich jetzt schlicht nicht prognostizieren. Und das ist ja auch nicht Aufgabe des Familiensenats, vorherzusehen und zu bestimmen, wie das dann strafrechtlich möglicherweise aufzuarbeiten wäre.
Wichtig wäre hier, dass es tatsächlich zu einer Vorlage an den Bundesgerichtshof mal kommt, damit erst einmal geklärt ist, unter welchen Voraussetzungen einen stationäre Zwangbehandlung rechtmäßig ist oder eben nicht. Das ist der erste Schritt, der jetzt erst einmal geklärt werden müsste. Und dazu wär es natürlich sehr nützlich für alle Beteiligten, wenn diese Frage möglichst schnell zum Bundesgerichtshof käme.

DF: Welche Rückmeldungen hat es bisher bei Ihnen gegeben?

AZ: Bei uns bis jetzt keine. Weder positiver noch negativer Art.
Nun ist der Beschluss aber auch noch nicht so alt. Möglicherweise ist er auch noch gar nicht so bekannt geworden. Das kann ich im Augenblick noch nicht sagen, woran das liegt. Aber wir haben bisher noch keine Rückfragen dazu erhalten.

DF: ... und auch kein Medieninteresse?

AZ: Nein. Noch nichts. Sie sind die ersten.

DF: Das freut uns. Trotzdem würden wir insgesamt einschätzen, dass das Urteil deutsche Rechtsgeschichte geschrieben hat. Könnte es sein, dass das dem Gericht gar nicht bewusst ist?

AZ: Ich würde sagen, das ist nach unsere Sicht einfach ein wenig hoch gehängt. Denn erstens hat sich ja der Bundesgerichtshof in einem ähnlichen Fall, der die ambulanten Zwangbehandlungn betraf, auch schon ähnlich geäußert. Die Überlegungen an sich, die der 17. Senat bei uns hier angestellt hat, sind so neu und überraschend also nicht, sie stehen schon in der Linie, wie sie der Bundesgerichtshof vertreten hat. Und zweitens gibt es ja mit dem Oberlandesgericht Thüringen auch zumindest ein weiteres oberstes Gericht, das diese rechtliche Beurteilung Celles teilt. Deswegen sehen wir uns jetzt nicht als die Vorreiter mit einer völlig neuen bahnbrechenden Meinung. Das ist aber vielleicht auch eine subjektive Bewertung.

DF: Das Thüringer Urteil ist aber auch nicht so bekannt geworden. Das war ja eher das Celler Urteil, das wir auch zu sehen bekamen und das jetzt auch schon im Internet zu lesen ist. Unseres Wissens hat es auch die DGPPN (die Psychiatervereinigung, um es kurz zu sagen) bei sich ins Internet gestellt. Das scheint mir schon eine große Beachtung zu finden.

AZ: Das wird mit Sicherheit auch noch mehr Beachtung finden, wenn jetzt noch ein wenig mehr Zeit ins Land geht. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Leute werden es ja wahrscheinlich auch zur Kenntnis genommen haben. Möglicherweise ist dann auch bei uns das Interesse etwas größer.

DF: Vielen Dank für das Gespräch.

(Autorisierte Transkription)

Gesendet am 10.11.2005 im Dissidentenfunk (www.dissidentenfunk.de)

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