Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Warum debattieren wir heute über die Frage der rechtlichen Verbindlichkeit von Patientenverfügungen? Wir debattieren darüber, weil circa 7 bis 8 Millionen Menschen in Deutschland eine Patientenverfügung gemacht haben und darauf vertrauen, dass ihre dort getroffenen Bestimmungen auch beachtet und befolgt werden. Sie wehren sich damit gegen die, wie sie es nennen, Apparatemedizin, gegen das Diktat des medizinisch Machbaren, gegen die Verlängerung eines Lebens, das für sie nicht mehr lebenswert ist.
Zwar ist der in der Patientenverfügung geäußerte Wille schon heute grundsätzlich verbindlich und Grundlage ärztlichen Handelns. Der Bundesgerichtshof hat dies trotz des Fehlens einer gesetzlichen Regelung wiederholt entschieden. Aber über genau die Frage, was im Einzelfall unter grundsätzlich verbindlich zu verstehen ist, wird ganz unterschiedlich diskutiert. Ich denke, die heutige Debatte wird das breite Spektrum der Meinungen, die in diesem Hohen Hause vertreten werden, sehr anschaulich zeigen. Es kann einen Unterschied bedeuten, in welches Krankenhaus oder zu welchem Arzt ich nach einem Verkehrsunfall im Zustand der Bewusstlosigkeit gebracht werde, wenn ich mich nicht mehr selber äußern kann, aber eine Patientenverfügung bei mir trage, in der ich zum Beispiel für eine bestimmte Situation das Setzen einer Magensonde ausgeschlossen habe. Die einen erkennen dies als verbindlich an, die anderen nicht. Viele Anwälte, die tagtäglich im Medizinrecht tätig sind, können hierzu beredt Beispiele benennen; bei mir sowie bei vielen Kolleginnen und Kollegen stapeln sich dazu die Briefe.
Die Menschen wollen Rechtssicherheit. Ich meine, sie haben einen Anspruch darauf,
dass der Staat ihnen hier Rechtssicherheit gibt. (Beifall im ganzen Hause) Es
handelt sich daher bei unserem Thema nicht, wie gestern zu lesen war, um ein
von der Politik künstlich aufgebautes Thema, sondern, wie wir alle wissen,
um ein Thema, das die Menschen in diesem Lande zunehmend brennend beschäftigt.
Jeder Politiker, der dazu Veranstaltungen durchführt, weiß, dass
bei einer solchen Veranstaltung der Saal voll ist.
(Jörg van Essen [FDP]: Ja, sehr richtig!)
Darum die Frage: Bringt denn eine gesetzliche Neuregelung für die Zukunft
Rechtssicherheit? Ich sage: Ja, wenn es eine klar definierte materiellrechtliche
Regelung zum zulässigen, verbindlichen Inhalt einer Patientenverfügung
gibt. Nach dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung entfaltet eine Regelung
im Bürgerlichen Gesetzbuch Gültigkeit in allen Lebensbereichen.
Die Frage der Rechtswidrigkeit eines medizinischen Eingriffs wird im Strafrecht
dadurch entschieden. Ich sage aber genauso deutlich Nein zu einer Regelung,
die quasi nur einen Katalog der Voraussetzungen aufstellt, unter denen ein Mensch
fordern kann, dass ein medizinischer Eingriff an ihm nicht vorgenommen wird.
Das zum Beispiel wäre eine Regelung mit einer abgestuften Reichweitenbeschränkung.
Dies würde nur neue Rechtsunsicherheit bedeuten und, wie ich meine, ein
Arbeitsbeschaffungsprogramm für die Vormundschaftsgerichte sein. Ich betone
daher: Gar keine Regelung ist besser als eine schlechte gesetzliche Neuregelung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Wie müsste eine mich überzeugende Neuregelung aussehen? Im Mittelpunkt
müsste das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht des Patienten stehen.
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 unseres Grundgesetzes bestimmen: Jeder hat das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Daraus folgt: Jeder Patient hat
das Recht, sich für oder gegen eine medizinische Behandlung zu entscheiden
und gegebenenfalls deren Umfang zu bestimmen. Dieser Grundsatz gilt auch für
den antizipierten Willen. Daraus folgt, dass der sicher festgestellte Wille
des Patienten unabhängig von Art oder Stadium einer Erkrankung zu beachten
ist. Eine Regelung, wonach eine Patientenverfügung nur in dem Fall verbindlich
ist, wenn das Grundleiden des Betreuten nach ärztlicher Überzeugung
bereits unumkehrbar einen tödlichen Verlauf angenommen hat, genügt
dem Selbstbestimmungsrecht nicht und ist deshalb meiner Meinung nach mit Nachdruck
abzulehnen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Eine Patientenverfügung mit einer Reichweitenbeschränkung ist nach
meiner Überzeugung mit unserer Rechtsordnung nicht in Übereinstimmung
zu bringen. Unsere Rechtsordnung hat den philosophischen Meinungsstreit zwischen
Determinismus und Indeterminismus eindeutig entschieden. Unsere Rechtsordnung
beruht darauf, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung
angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das
Unrecht zu entscheiden und sein Verhalten an den Normen des rechtlichen Sollens
auszurichten. Daraus folgt zum Beispiel, dass der Staat bei Überschreitung
dieser Normen das Recht zum Strafen hat. Das ist der tiefste Eingriff, den ich
in die Freiheitsrechte vornehmen kann.
Der Umkehrschluss ist aber genauso zwingend: Der Staat hat es zu achten und
darf sich nicht einmischen, wenn sich das Individuum in seinem Verhalten an
diesen Normen des rechtlichen Sollens ausrichtet. Das Grundgesetz garantiert
daher ein Recht auf Leben, es begründet aber keine Pflicht, zu leben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ansonsten müsste der Suizid strafbewehrt sein, was wir alle nicht wollen.
Der Staat darf das Leben nie gegen den erklärten Patientenwillen schützen,
wenn er denn frei und von einer geschäftsfähigen Person bestimmt worden
ist.
Die Patientenverfügung findet nach dem Grundgesetz ihre Grenze allein
in der Verletzung der Rechte anderer Menschen. Hierzu hat die höchstrichterliche
Rechtsprechung, ebenfalls unter Berufung auf die Verfassung, festgestellt, dass
ein Patient mit dem Verbot einer künstlichen Lebensverlängerung niemals
die Rechte von Ärzten, Pflegekräften oder Angehörigen verletzen
kann. Vielmehr verletzten diese sein Selbstbestimmungsrecht und seine körperliche
Integrität, wenn sie eine solche Lebensverlängerung gegen den Patientenwillen
aus Gewissensgründen durchführten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Auch die Beurteilung der Pflicht des Staates zum Lebensschutz führt zu
keinem anderen Ergebnis. Diese Pflicht bedeutet, dass eine Patientenverfügung
so ausgestaltet sein muss, dass der Missbrauch dieser Patientenverfügung
weitgehend ausgeschlossen werden kann. Deshalb postuliert die heutige Rechtsprechung,
auf die ich bereits Bezug genommen habe, entgegen anderslautender Interpretationen
nach herrschender Meinung keine Reichweitenbeschränkung einer Patientenverfügung.
Rund um diesen Kernbereich, den ich zu skizzieren versucht habe, bedarf es deshalb
klarer Regelungen zur Ermittlung des freien Willens des Patienten. Ich will
die Eckpunkte dieser Regelung kurz skizzieren: Der Betroffene muss vor Unterzeichnung
der Patientenverfügung ein breites Beratungs- und Informationsangebot zur
Verfügung haben, er muss volljährig und geschäftsfähig sein,
die Patientenverfügung muss immer den aktuellen oder aktuellsten Willen
widerspiegeln, der Arzt und der Betreuer oder der Bevollmächtigte haben
in der konkreten Krankheitssituation des Patienten festzustellen, ob die in
der Patientenverfügung niedergelegten Voraussetzungen für die Einwilligung
in einen ärztlichen Eingriff oder eine ärztliche Heilbehandlung bzw.
für deren Untersagung vorliegen, und nur bei Nichtverständigung, beim
Dissens zwischen Arzt und Betreuer ist dasVormundschaftsgericht einzuschalten.
Die Patientenverfügung muss zu ihrer Verbindlichkeit schriftlich abgefasst sein. Anderenfalls ist von Arzt und Betreuer der mutmaßliche Wille des Patienten zu ermitteln. Bei dieser Ermittlung sind insbesondere frühere mündliche und schriftliche Äußerungen, seine ethischen und religiösen Überzeugungen sowie persönliche Wertvorstellungen, die verbleibende Lebenserwartung und das Maß der zu erleidenden Schmerzen zu berücksichtigen.
Die Patientenverfügung ist jederzeit formlos widerrufbar. Hierzu genügt
die natürliche Willensbekundung ich betone: natürliche ,
nicht die rechtsfähige Willensbekundung. Das heißt, auch ein Dementer
kann natürlichen Lebenswillen äußern. Wir müssen klar zum
Ausdruck bringen, dass die Fürsorgepflicht der Ärzte für ihre
Patienten die Achtung des Selbstbestimmungsrechts einschließt. Eine so
skizzierte und normierte Patientenverfügung entspricht im Übrigen
der Position der Bundesärztekammer; so habe jedenfalls ich deren Papier
verstanden, das uns allen in diesen Tagen zugegangen ist.
(Zuruf von der SPD: So ist es!)
Die Rechtspolitiker der SPD-Fraktion haben zusammen mit dem Bundesministerium der Justiz und Frau Ministerin Zypries eine so skizzierte Patientenverfügung in einem Gesetzentwurf vorgelegt. Wir werben für diesen Entwurf. Mit Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen sind wir im Gespräch. Ich bin sicher, dass wir Ihnen nach den Gesprächen, nach der Osterpause hierzu einen gemeinsamen Gruppenantrag vorlegen werden. Wir werden dann gemeinsam darüber diskutieren.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Anmerkung machen: In der öffentlichen
Diskussion, aber auch in der Diskussion in diesem Hohen Hause sollten wir eine
Verwechslung nicht vornehmen: Wenn wir über die Rechtsverbindlichkeit einer
Patientenverfügung diskutieren, reden wir nicht über aktive Sterbehilfe.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Die Tötung auf Verlangen nach § 216 des Strafgesetzbuches bleibt
ausdrücklich strafbewehrt. Wir reden auch nicht darüber, dass der
Gesetzgeber, dass wir und damit der Staat letzten Endes die Menschen massenhaft
dazu bringen wollen, Patientenverfügungen zu machen. Das muss jeder Einzelne
für sich entscheiden. All jenen Menschen, die keine Patientenverfügung
machen, haben wir nicht hineinzureden. Aber die, die für sich entscheiden,
eine zu machen, haben einen Anspruch darauf, dass ihr verfassungsrechtlich garantiertes
Selbstbestimmungsrecht von uns und damit vom Staat beachtet wird. Schönen
Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)