Warum wir eine gesetzliche Regelung zur Patientenverfügung brauchen, machte
Michael Kauch von der FDP deutlich.
Jerzy Montag von den Grünen verwies auf die historische Dimension der Debatte
und begründete damit eine Patientenverfügung ohne Reichweitenbegrenzung.
Zunächst Michael Kauch:
Meine Damen und Herren, die Verbindlichkeit und der Anwendungsbereich von
Patientenverfügungen müssen endlich neu geregelt werden. Es herrscht
verbreitete Rechtsunsicherheit über die Auslegung der Entscheidungen des
Bundesgerichtshofs. Erst gestern habe ich es erlebt, dass eine Ärztin in
einer Radiosendung angerufen hat, die gerade von einer Fortbildung über
die rechtlichen Fragen in diesem Bereich kam. Mir standen die wenigen Haare,
die mir verblieben sind, wirklich zu Berge. Was dort gesagt wurde, entsprach
absolut nicht dem, was der Bundesgerichtshof entschieden hat. Die Rechtsunsicherheit,
gerade unter den Ärzten, ist groß. Umso mehr ist eine gesetzliche
Regelung erforderlich, um Klarheit in diesem Bereich zu schaffen.
(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])
Nun der ganze Redebeitrag von Jerzy Montag:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kann in Deutschland keine Debatte über den Wert und den Schutz menschlichen Lebens und über die Würde des Menschen und seine unantastbaren, garantierten Menschenrechte geben, ohne den Blick zurück in die Geschichte zu richten. Die Barbarei der nationalsozialistischen Diktatur und ihre Menschenverachtung sind deshalb auch Mahnung für unsere heutige Debatte über das Selbstbestimmungsrecht bis in den Tod, über die menschliche Würde im Sterben und über die Pflichten der Gesellschaft und des Staates zum Schutz der Würde und des Lebens von uns allen.
Es ist wichtig, dass wir dies im Verlauf dieser Debatte und auch aller folgenden nicht vergessen. Für mich ist das Kürzel T 4 das Stichwort: Es steht für eine Villa in der Tiergartenstraße 4 in Berlin Mitte. Diese Villa gibt es nicht mehr, nur noch eine Gedenktafel ist dort zu finden. Dort wurde in unüberbietbarem Zynismus als Gnadentod bezeichnet die Entscheidung über die Vernichtung von über 100 000 Kranken, Alten und Behinderten getroffen, denen ein Recht auf Leben und jedes Menschenrecht abgesprochen wurde.
Nicht zuletzt dieser Schrecken war es, der zu den für uns unumstößlichen
Prinzipien führte: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Die Würde
jedes Menschen ist unantastbar.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD,
der FDP und der LINKEN)
Nur dann, wenn wir das zur Grundlage unserer Überlegungen machen, wird
es uns gelingen, die Vor- und Nachteile der vorgestellten Gesetzesvorschläge
sachlich und respektvoll miteinander zu diskutieren. Ich will die Punkte nennen,
in denen wir uns einig sind. Wir sind uns einig, dass das Selbstbestimmungsrecht
jedes einwilligungsfähigen Patienten zu beachten ist. Wir sind uns einig,
dass die Patientenverfügung auf eine eingetretene konkrete Situation zutreffen
muss und dass sie jederzeit, in jeder Form, auch formlos und ohne Worte konkludent
widerrufen werden kann. Wir sind uns auch einig, dass eine Patientenverfügung
nur dann wirksam sein kann, wenn sie schriftlich vorliegt, frei undohne Zwang
verfasst wurde, nicht irrtümlich oder unter Täuschung entstanden ist
und nichts Gesetzwidriges verlangt. Weitere Begrenzungen darüber hinaus
insbesondere in der Reichweite halte ich nicht für richtig.
Denn wer verlangt, dass sie nur in Kenntnis der möglichen medizinischen
Behandlungen und zukünftiger medizinischer Entwicklungen wirksam sein soll,
der macht praktisch alle Patientenverfügungen wertlos.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD,
der FDP und der LINKEN)
Auch ihre Begrenzung auf Leiden, die einen unumkehrbar tödlichen Verlauf
genommen haben, und auf Bewusstlose, die ihr Bewusstsein mit Sicherheit niemals
wiedererlangen werden, verbietet den Menschen, gerade das zu regeln, was sie
für ihr Lebensende verbindlich regeln wollen. Dahinter stehen verständliche
Ängste und Befürchtungen. Sie werden aber mit diesen Begrenzungen
auf falsche Weise gelöst und bringen letztlich nicht weniger, sondern mehr
Leid und mehr Fremdbestimmung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Zwei Grundsatzfragen müssen wir beantworten. Erstens. Kann und darf
man seinen Willen für die Zukunft binden? Darf der geäußerte
und eindeutige Wille des Patienten von Ärzten, Betreuern oder Gerichten
in Zweifel gezogen werden? Ich meine, nein. Es kann nicht darum gehen, zu beweisen,
dass der geäußerte Wille weiter gilt das ist nie möglich
; vielmehr tragen diejenigen, die ihn anzweifeln, die Beweislast, dass
er sich wirklich geändert hat.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD
und der LINKEN)
Zweitens stellt sich die Frage nach unserem Selbstbestimmungsrecht, also
unserem Recht, selbst zu bestimmen, wie wir leben wollen oder es nicht mehr
wollen. Dabei hat der Staat die Pflicht, Leben zu schützen und zu erhalten.
Steht in Fragen, die Menschen in einer Patientenverfügung verbindlich regeln
wollten, die Pflicht des Staates gegen das Recht der Menschen?
(Joachim Stünker [SPD]: Nein!)
Darf der Staat lebenserhaltend gegen das Selbstbestimmungsrecht angehen
und es in fremdbestimmte Schranken weisen? Ich meine, nein.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und
der FDP)
Ich will mit einem Zitat der Vorsitzenden Richterin des XII. Zivilsenats des
Bundesgerichtshofs, Frau Dr. Hahne, enden. Sie hat die grundlegende Entscheidung
getroffen, nach der Patientenverfügungen überhaupt Verbindlichkeit
genießen. Ich zitiere:
Wünschenswert wäre eine gesetzgeberische Stärkung des Selbstbestimmungsrechts
des Patienten dergestalt, dass die Patientenverfügung, der geäußerte
Patientenwille, absoluten Vorrang hat. Denn nur der Patient ist es, der über
sein Leben, aber auch über die Art und Weise seines Todes seines
Weggehensaus diesem Leben zu entscheiden hat. Niemand sonst hat darüber
zu entscheiden, denn es ist das Leben des Patienten. Der Patient hat zwar ein
Lebensrecht, aber er hat keine Lebenspflicht.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD
Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!)
Ich wünsche mir, meine Damen und Herren, dass wir diese Worte beherzigen
und danach ein bestmögliches Gesetz zustande bringen.
Danke.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der
LINKEN)