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Sendung vom 09.03.2006
Anonyme Geburt- Wege aus biologistischem Denken

Seit der europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil 2003 festgestellt hat, dass die informelle Selbstbestimmung eines Kindes sehr wohl seine Grenze an der informationellen Selbstbestimmung seiner Eltern finden kann, gibt es in Deutschland eine Diskussion um die "Babyklappe" und die Legalisierung der anonymen Geburt.
Wir berichten über die verschiedenen Begründungen für Elternschaft und wie die anonyme Geburt deren begriffliche Konzeption verändern kann.

01 Einführung 01:52 Audio Text
02 Musik 00:47
03 Interview René Hoksbergen + Kommentar 13:50 Audio Text
04 Musik von Miles Davis und John Coltrane 04:09
05 Interview Ursula Künning 01:19 Audio Text
06 Musik von Bela Fleck - Victor Wooten - Bassgitarre Solo 08:35
07 Aus dem Vortrag Künning 06:16 Audio Text
08 Musik - Funk: Bass & Sax Duet 05:23
09 Zur rechtlichen Situation der anonymen Geburt 01:58 Audio Text
10 Musik von Dizzy Gillespieund Cannonball Adderly 04:30
11 aus dem Vortrag von Gabriele Stangel 04:37 Audio Text
12 Musik 01:44
13 Vorschlag zur freiwilligen Elternschaft 02:25 Audio Text
Einführung
Autoren: Sylvia Zeller und René Talbot
Länge 01:52
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Kinder und ihre Eltern; Familie und Verwandtschaft – das sind die scheinbar natürlichsten Grundlagen unserer Existenz. Sie liegen im Bereich des Privaten und damit in einer Sphäre, die dem politischen Diskurs immer schon vorausgeht, aber dennoch auf engste mit ihm verwoben ist.

Für unser Denken und unser Selbst-Bild, also die Konstruktion unserer Identität, ist allerdings sehr wesentlich, wie wir unsere Genealogie bestimmen. Unmittelbar wird sichtbar, unter welcher ideologischen Prämisse sich unser Denken vollzieht – denn Elternschaft kann ja auf zwei verschiedene Arten zustande kommen.

Zum einen durch Adoption. Erwachsene entscheiden sich aus freien Stücken dazu, uneigennützig für ein Kind zu sorgen und übernehmen die Verantwortung für das Aufziehen dieses neugeborenen Menschen. Wenn Kinder adoptiert werden, wird ihr Familiennamen der ihrer nicht leiblichen Eltern.
Diese Form der Genealogie kommt durch die positive Annahme eine Kindes, ein Zuneigungsversprechen der Eltern zustande, das sich durch die Übergabe des Familiennamens an das Kind wiederspiegelt. Die Beziehung wird sprachlich - damit öffentlich - vollzogen, also in dem Medium, auf das sich Denken und Kultur, Moral, Recht und Mythos gründet.

Die andere Möglichkeit, wie Elternschaft konstituiert wird, ist durch biologische Abstammung. Diese Form der Elternschaft als die unhinterfragbare Norm anzusehen, ist eine Auffassung, die sich in den letzten 300 Jahren im Zuge der Aufklärung und dem Aufkommen moderner Medizin, Naturwissenschaften und Psychiatrie durchgesetzt hat.

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Musik
Komposition: Matthias Müller
Länge 00:47
Didgeridoo-Musik zum Anhören auf der Website des Komponisten www.didgeridoo-music.ch/media/sound/tribeofsound/mp3/Sounds04.mp3
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Interview René Hoksbergen + Kommentar
Interview: René Talbot
Kommentar: Sylvia Zeller und René Talbot
Länge 13:50
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Adoptierte Kinder weichen von dieser dominant verteidigten Norm ab. Ihre Existenz stellt sich vom Standpunkt der herrschenden Ideologie aus gesehen als Zumutung dar. In diesem Sinne erscheint das Leben der von Adoption Betroffenen als eine Leidensgeschichte; Adoptierte werden dargestellt als Menschen mit problematischer Sozialisation und lebenslangen Identitätskonflikten und scheinen sich mitunter auch selbst so zu verstehen.

Wir haben dazu ein Gespräch mit dem bekannten Adoptionsforscher Prof. René Hoksbergen von der Universität Utrecht geführt und senden Ausschnitte aus diesem Telefoninterview:

René Talbot (R.T.):
Herr Hoksbergen, wir freuen uns, dass wir am Telefon mit Ihnen dieses Interview machen können. Es soll darum gehen, was macht Elternschaft aus bzw. wie verhalten sich soziale und biologische Elternschaft zueinander im gesellschaftlichen Diskurs. Noch kurz zu Ihrer Person: sie sind Sozialwissenschaftler?

Prof. René Hoksbergen (P.R.H.):
Ja in Psychologie und Pädagogik.

R.T.: Woran liegt es, Ihrer Meinung nach, dass Adoption immer noch tabuisiert oder stigmatisiert ist?

P.R.H.: Ja, dass es noch immer so ist, wie vor z. B. 50 Jahren, würde ich nicht denken. Natürlich ist ein Kind zu bekommen durch Adoption eine andere Art für die Familie, als selbst ein Kind zu bekommen, die normale Fortpflanzung. Eine Adoption ist natürlich etwas anderes und natürlich kann man fragen: "Was ist los mit dem Kind?" und sie wissen vielleicht gar nichts vom Kind u.s.w. Das wird immer so sein. Wenn Sie das "tabuisieren" nennen, ja. Das wird sich nicht ändern, aber für mich ist das nicht tabuisieren, das sind einfach reale Fragen.

R.T.: Warum wird biologische Elternschaft gegenüber der sozialen gesellschaftlich präferiert?

P.R.H.: Natürlich ist das so - das ist die normale Fortpflanzung.

R.T.: Als Norm?

P.R.H.: Natürlich als Norm und das hat nichts mit Adoption zu tun. Das hat einfach mit dem Gesetz zu tun, dass wir bestehen bleiben wollen, als Menschheit.

R.T.: Ja, aber das können wir auch mit Adoptierten. Das Gesetz ist ein juristische Kategorie und eine gesellschaftspolitische.

P.R.H.: Ja, aber wir wollen uns auch selbst fortsetzen, vielleicht will jeder Mensch so etwas wie Ewigkeit haben. Die Religionen sind nicht für nichts da. Die Religionen sagen oft, wir bleiben ewig da, irgendwie und mit Kindern bleiben wir auch noch leben.

R.T.: Dann kämen wir aber auf ein ähnliches Problem: wie weit sind wir mit Kindern in Projektionen gefangen?

P.R.H.: Sie müssen "Kinder bekommen" und "Adoption" voneinander trennen, weil wenn man adoptiert, dann hat das auch damit zu tun, dass ich möchte gern ein Kind erziehen, versorgen u.s.w. Das ist einfach ein Basisbedürfnis... Wenn man selbst kein Kind bekommen kann, dann wäre 5% bis 10% aller Leute, die selbst keine Kinder bekommen, versuchen, zu adoptieren - das ist also eine kleine Minderheit.

R.T.: Trotzdem ist natürlich der Akt der Adoption doch der der Annahme. Kommt es nicht sehr darauf an, dass ein Kind angenommen und in dem Sinne auch adoptiert und geliebt wird?

P.R.H.: Ja, natürlich. Sie haben völlig Recht.

R.T.: Jedes Kind?

P.R.H.: Das ist auch der Fall - ich sehe immer, dass Adoptiveltern im Durchschnitt - kann man sagen - bessere Eltern sind, als die ganze Gruppe von Eltern, weil sie sehr auf das Kind bezogen und gerichtet sind, sie wollen sehr viel mit dem Kind erreichen.

R.T.: Man könnte doch sehr sinnvoll von einem "Wunschkind" sprechen, oder?

P.R.H.: Ja, hoffentlich sind alle Kinder "Wunschkinder" aber besonders für Adoptivkinder, ist das recht, was Sie sagen. Es ist auch aus Idealismus, wenn Kinder adoptiert werden, weil - es wird in Deutschland auch ungefähr sein - 10 - 15% von allen Adoptiveltern haben schon biologische Kinder d.h. sie brauchen nicht zu adoptieren, um eine Familie zu gründen. Um ein gewissen Maß an Idealismus geht es auch.

R.T.: Sie haben auch geschichtlich gearbeitet und Sie kamen in einer Veröffentlichung auch auf Phasen. Können Sie uns ein bißchen darüber erzählen? welche Phasen kann man dabei unterschieden in den letzten 50, 100 Jahren?

P.R.H.: Ja. In den letzten 50 Jahren, besonders in Holland aber ich denke auch in Schweden und vielleicht auch in Deutschland - in Deutschland sehe ich auch etwas davon - ich habe vier Generationen von Adoptiveltern voneinander unterschieden. Die verschlossene Adoptivelterngenerationen, das war einfach die Generation vor 30, 40 Jahren. Sie wollten sehr gern Kinder haben, waren aber nicht imstande, selbst Kinder zu schöpfen und wollten dann adoptieren und meistens sind das dann auch wie Kinder, die in Deutschland oder in Holland oder in Schweden Geborene. Diese waren auch ziemlich verschlossen. Sie wollten nicht oft mit dem Kind über die Adoption sprechen, z.B. und dass sie ein Kind adoptiert haben, wurde auch nicht an andere mitgeteilt. Ich sage: "öfters", nicht für alle.

R.T.: …oder eher verheimlicht.

P.R.H.: Ja, genau.

R.T.: …oder tabuisiert in dem Sinne.

P.R.H.: Wenn Sie über "tabuisiert" sprechen, dann müssen Sie an diese Generation denken. Dann hat man die 2. Generation, die "offenen, idealistischen" Adoptiveltern - so nenne ich sie halt - und das hat angefangen mit den Adoptionen von Kindern aus anderen Ländern, besonders aus Asien, Südamerika und manchmal aus Afrika. Das waren ganz andere Kinder, mit eine andere Hautfarbe. Man wußte viel weniger von diesen Kindern. Das waren auch Kinder, die aus Armut freigegeben worden waren und diese Eltern hatten oft eigene Kinder, sie brauchten gar nicht ein Kind zu adoptieren, um eine Familie zu bilden. Sie waren sehr idealistisch und auch offen. Ja, so ungefähr…

R.T.: Die 70er, 80er Jahren…

P.R.H.: … und dann später wurde deutlich, dass mit diesen Adoptivkindern allerhand los war. Oft hatten sie ganz schlimme Verhaltensprobleme, die sehr lange dauerten oder oft gar nicht verschwinden kontnen, so daß wir viel mehr Kenntnisse haben müßten, um besser mit diesen Kindern umgehen zu können.

Ich nenne diese 3. Generation die "realistische Generation". Sie wollten viel mehr lesen über Adoption, Schwierigkeiten, Verhaltensprobleme der Kinder u.s.w. Ja, und jetzt hat sich wieder eine Änderung vollzogen und man kann sagen, dass jetzt, weil viel mehr Kinder aus China kommen - das sind ziemlich junge Kinder und für 90 - 95% sind das Mädchen - kann man sagen, dass man etwas optimistischer geworden ist aber auch fordernder. man will wirklich sehr junge Kinder haben und oft aus China - z. B. in Holland im vorigen Jahr waren das 800, 900 aus China angekommen, das sind sehr viele - die ein junges Kind haben…

R.T.: Kurze Zwischenfrage: Wie ist der Anteil im Vergleich zu den Inlandsadoptionen?

P.R.H.: In Holland werden fast keine Kinder freigegeben. In Deutschland sind es mehr, das weiß ich, das ist aber ein größeres Land. Das ist aber jedes Jahr weniger jetzt, das ist derselbe Prozess, wie in Holland. Die letzte Generation ist auch sehr fordernd und es war bei der 2. Generation, der offenen, idealistischen Generation, gar nicht so. Sie akeptierte leicht ältere Kinder, 3, 4, 6 Jahre alt oder vielleicht sogar noch älter aber die letzte Generation, die fordernde Generation, die will am meisten - nicht alle - aber meistens Kinder unter 2 Jahre adoptieren. Die Eltern hoffen dann, dass es weniger Verhaltensprobleme geben wird mit ihrem Kind.

R.T.: Sie weisen in ihren Publikationen öfters darauf hin, dass Adoptierte in der Regel Probleme mit ihrer Identitätsfindung haben. Welche Rolle spielen dafür traditionelle Vorstellungen von Subjektkonstitution als Derivat einer biologischen Gruppe?

P.R.H.: Ja, ich denke, dass die Probleme mit der Identitätsfindung damit zusammenhängen, dass man einfach als Mensch in der eigenen Stammgruppe leben will, man will wissen wer man ist, von wem hat man bestimmte Charakteristiken, bestimmte Merkmale und man fühlt sich sicherer in der eigenen biologischen Familie, das ist einfach so und man muß es wirklich anpassen - verstehen Sie das? - man muß es wirklich anpassen an eine andere Familie und dann sieht man öfters, dass man sich einsam fühlt, dass man sich allein fühlt, dass man sich anders fühlt, so die Identitäsprobleme von adoptierten Leuten, die muß man sehr ernst nehmen, man muß akzeptieren, dass es das gibt.

R.T.: Die andere Frage natürlich ist, in wieweit ist es auch eine gesellschaftlich-politische Frage, eine soziale Frage ist bzw. auch ein kulturelle Frage. Dahinter steht die Frage, in wieweit man akzeptiert, eine Autobiografie zu entwickeln im Gegensatz zu eine Biografie nur haben, also eine Autobiografie, sich selbst auch als Mensch zu setzen und entwickeln und sozusagen seine Freiheit annehmen.

P.R.H.: Ja, das können sie so sagen aber ich sage, dass ohne Vergangenheit, ist das sehr schwierig und die Vergangenheit findet man in der eigenen biologischen Familie.

R.T.: Warum "biologisch", warum nicht "sozial"?

P.R.H.: Ja, das gehört zusammmen, weil die biologische Familie ist natürlich auch kulturell und sozial verknüpft an einer neuen Generation, das verstehe ich nicht ganz genau. Ich würde sagen, dass ohne Vergangenheit mit dem Leben in den eigenen biologischen Familie sehr schwierig ist, einfach schwierig ist, ganz sicher zu fühlen von sich selbst aus, weil man hat dann nicht so sehr die Hilfe von der Familie gehabt. Natürlich haben Adoptivkinder sehr viel Hilfe von der Adoptivfamilie, natürlich ist das so und grundsätzlich mehr, als die andere Leute aber ich meine, das ist Gefühl, Gefühl des Zusammenseins. Ich sage zu meine Studenten immer: ein Kind ist seine Eltern. Ich meine damit, ein Kind ist ein Teil von seinen Eltern und damit meine ich "mental", also "psychisch" und nicht nur "physisch". Das ist ganz wichtig und für adoptierte Kinder ist das schwierig - nicht immer, aber öfters ist das schwierig, das zu erholen. Daher sieht man auch, dass viele dieser Kinder, wenn sie erwachsen sind, nach ihren Herkunftsland reisen wollen, auf der Suche nach ihrer biologischen Familie, Bruder oder Schwester u.s.w. und das machen die meisten, 90, 95% versuchen das.

Untersuchungen haben uns das gelernt und das ist auch kein Problem für Adoptiveltern, sie können ruhig ihren Kindern mithelfen und das ist auch wichtig, das zu tun und ich sage auch nicht, dass alle Adoptivkinder sich unglücklich fühlen, das ist gar nicht so aber sie müssen mehr Schwierigkeiten überwinden als andere Leute. Das was Sie gefragt haben über die Identitätsfindung, ist eine wirklich wichtige Sache, da haben Sie recht.

R.T.: Gut, Herr Professor Hoksbergen, wir bedanken uns für das Gespräch.

Dem Adoptionsforscher fällt es schwer, Adoption nicht in erster Linie unter den Vorzeichen einer Abweichung vom Normalen, nicht als defizitäre und prekäre Form der Verwandtschaft zu verstehen. Wiewohl er Adoptionseltern ein häufig hohes Maß an Idealismus bescheinigt, verkennt er den emanzipatorischen Impuls dieser Form von Familienbildung.

Denn Adoption ist per Definition der Akt der willentlichen Annahme eines Kindes. Sie ist die positive, gewollte Zustimmung zu der Lebensform und Rolle des Mutter- bzw. Vaterseins als bewusster Entscheidung für einen Lebensabschnitt, wenn nicht für ein ganzes weiteres Leben. Wenn Elternschaft zu einem bereits geborenen Menschen freiwillig zustande kommt – nicht nur als Resultat von Sexualität gesehen wird - , stellt dies das Eltern-Kind Verhältnis von vornherein auf eine gewaltfreie Basis. Diese freie Entscheidung kann erst die Übernahme von Verantwortung begründen. Die gängige Rede vom „Wunschkind“ entfaltet nur mit diesem positiven Blick auf Adoption ihren wohlverstandenen Sinn.

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Musik von Miles Davis und John Coltrane
Länge 04:09
Titel: Two Base Hit
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Interview Ursula Künning
Interview: Sylvia Zeller
Länge 01:19
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Die Abwehr so verstandener Wunschkinder wird in der Abwertung der Motivation adoptionswilliger Eltern offenkundig. Wir führten dazu ein Telefoninterview mit Ursula Künning, diplomierter Sozialarbeiterin, die zu diesem Thema eine Doktorarbeit schreibt:

"Viele Eltern, die heute ein Kind adoptieren möchten, entwickeln den Wunsch zur Adoption, weil sie feststellen, dass einer der Partner, der medizinischen Diagnose nach, unfruchtbar ist. Das Paar muss mit dem Stigma der eigenen Unfruchtbarkeit und mit der Stigmatisierung mancher Adoptionsvermittlungsstellen leben, die ein unfruchtbares Paar als pathologischen Fall einstufen, die ihre Krankheit mit der Adoption aus egoistischen Gründen heilen wollen.

Diesen Eltern wird häufig mit Argwohn begegnet, da es gesellschaftlich kaum vorstellbar scheint, dass ein Kind in einee Adoptionsfamilie nicht nur ein Ersatzkind für das leibliche Kind darstellt und dass es nicht "wie ein", sondern "als ein" sog. "eigenes Kind" geliebt wird."

Wie Frau Künning sagt, es ist gesellschaftlich nahezu undenkbar, dass Adoptiveltern ihr Kind nicht "wie", sondern "als" ein sog. "eigenes Kind" lieben könnten. Ein angenommenes Kind kann nur als bloßes Ersatzkind gesehen werden. Das offenbart, in welchem Maße das Eltern/Kind-Verhältnis ideologisiert ist.

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Aus dem Vortrag Künning
Vortrag: Ursula Künning
Kommentar: Sylvia Zeller und René Talbot
Länge 06:16
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In Deutschland ist die Frage von Elternschaft als ideologische Frage in den letzten Jahren wieder brisant geworden mit der Eröffnung von Babyklappen und der damit zusammenhängenden Debatte um die Legalisierung der anonymen Geburt. Im Zentrum dieses Diskurses steht die werdende biologische Mutter, die nicht soziale Mutter werden will – aus welchen Gründen auch immer. Da hierzulande die Vorstellung besonders hartnäckig verbreitet ist, Frauen müssten ihre Mutterschaft in jedem Falle als ungeteiltes Glück empfinden, kann eine Ablehnung der sozialen Mutterrolle nicht anders als im Kontext einer massiven Notlage verstanden werden. Das Bild einer Mutter, die ihr Kind nicht will, abgibt oder gar tötet, ist offenbar die größte anzunehmende Zumutung und trifft auf tiefliegende Ängste.

Frau Ursula Künning, diplomierte Sozialarbeiterin und Doktorandin an der Freien Universität Berlin, erläutert, wie es zu der Einrichtung der Babyklappen kam und wie der derzeitige Stand der rechtlichen Regelung ist:

"Wenn von Babyklappen, anonymer, vertraulicher Geburt oder von persönlicher aber anonymer Kinderabgabe eines Neugeborenen die Rede ist, weiß kaum jemand, wie es anscheinend plötzlich zu diesen sozialen Hilfsangebot kam. Die Idee der anonymen Kinderabgabe und ihrer Realisierung wurden in der Bundesrepublik voneinander unabhängig und zeitlich nahezu parallel von einerseits kirchlichen und andererseits einem Freien Träger sozialer Einrichtungen erbracht.

Ich berichte erst über die kirchlichen Ursprünge:
In Juni 1999 - untersagte der damalige Papst Johannes Paul II allen katholischen Schwangerschaftsberatungsstellen in Deutschland die Ausstellung von Beratungsscheine, die zu einer straffreien Abtreibung berechtigten. Daher stieg im Juni 1999 die deutsche Bischofskonferenz und damit der Caritasverband und der Sozialdienst katholischer Frauen aus der Schwangerenkonfliktberatung aus.

In September 1999 erfolgte als Reaktion auf den Ausstieg, die Gründung des Laienverbandes "Donum Vital", zu deutsch: "Geschenk des Lebens" als bürgerlicher Verein von Laien, um das katholische Element in der Schwangerschaftkonfliktberatung zu erhalten.
Ebenfalls im Sept. 1999 wurde unter dem Dach von " Donum Vital" in Bayern das Projekt "Moses" gegründet. Das Projekt "Moses" bietet Müttern, die ihr Kind nicht behalten wollen, Beratung und Unterstützung bei anonymer Geburt an. Unter einer Notrufnummer kann noch eine anonyme, persönliche Übergabe von neugeborenen Kindern an Mitarbeiterinnen vereinbart werden.

Unabhängig von dieser Entwicklung und zeitgleich nahezu parallel geht der Freie Träger "Sternipark" in Hamburg ein vergleichbaren Weg. Er handelt dabei auf Grundlage eines unterschiedlichen Konzepts: der Verein wurde bereits 1990 als gemeinnützig anerkannter freier Träger der Jugendhilfe in Hamburg und Schleswig-Holstein gegründet. "Sternipark" ist Anbieter, wie auch die erwähnten kirchlichen Träger, von beispielsweise Kindertagestätten, sowie betreutem Wohnen für Mütter und Kinder. Konzeptionell vertritt "Sternipark" ein reformpädagogischen Ansatz und knüpft an die anti-autoritäre und politische Erziehung seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik an.

1999 werden in Hamburg 4 ausgesetzte Kinder aufgefunden, von denen 2 bereits gestorben sind. "Sternipark" reagiert auf die Aussetzung mit der Gründung des Projekts "Findelbaby". Am 20. 12. 1999 startet das Projekt "Findelbaby" eine kostenlose Notrufnummer zur Beratung für Schwangere oder Mütter in Not- oder Konfliktsituationen. Unter dieser Nummer kann auch eine anonyme, persönliche Übergabe von neugeborenen Kindern vereinbart werden.

Im April 2000 bereitet das Projekt "Findelbaby" in einem der Kinderhäuser des Vereins die Aufnahme anonym abgegebener neugeborener Kinder vor. Durch eine Stahlklappe an der Außenwand des Hauses können Kinder in einem Wärmebettchen gelegt werden. Die Zeitung "Bild am Sonntag" berichtet über das Vorhaben und nennt die Einrichtung "Babyklappe". Das Projekt übernimmt nach längerer Diskussion diesen Namen.

Am 8. 4. 2000 wird in Hamburg die Babyklappe unter großer medialer Beachtung eröffnet. Die renommierte Werbeagentur "Jungfer & Matt" unterstützt das Projekt kostenlos mit einer umstrittenen, viel-beachteten Öffentlichkeitskampagne.

Im Zeitraum von 1999 bis zur Gegenwart wurden in Deutschland von kirchlichen und nicht-kirchlichen Trägern wahrscheinlich um die 80 Einrichtungen zur anonymen Kindesabgabe installiert. Diese Einrichtungen tragen verschiedene Namen, wie z. B. "Babyfenster" oder "Babywiege". Kurz nach der Einrichtung der Babyklappen wurde die Forderung nach Einführung anonymer Geburten laut, um auf Frauen, die in Notlagen sind aber ihre Daten nicht offenliegen wollen, eine medizinische Hilfe bei der Entbindung zukommen zu lassen.

Am 30. Mai 2001 fand im Bundestag die erste Anhörung zur gesetzlichen Regelung der anonymen Geburt statt. Einige der eingeladenen Fachleute äußerten sich negativ über die geplanten Legaisierung und kurz vor der Schlußabstimmung im Mai 2001, wurde der Gesetzentwurf zurückgezogen und die Abstimmung bis zu einem unbestimmten Termin in die nächste Wahlperiode vertagt. Zwei weitere Versuche, das Thema in den Bundesrat einzubringen scheiterten. Anonyme Geburten finden in Kliniken statt, das wissen wir - die Anzahl läßt sich nicht ermitteln. Die rechtliche Lage gilt als ungeklärt.

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Zur rechtlichen Situation der anonymen Geburt
Kommentar: Sylvia Zeller und René Talbot
Länge 01:58
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An dem Zustand, dass die anonyme Geburt in Deutschland rechtlich ungeklärt ist, hat sich seit der abgesagten Abstimmung im Bundestag im Jahr 2001 nichts geändert. Dies, obwohl im Frühjahr 2003 der europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil die anonyme Geburt sehr wohl für vereinbar mit der europäischen Menschenrechtskonvention erklärt hat.

Da in Frankreich seit 1941 die anonyme Geburt legalisiert ist, hatte eine Französin auf Einsicht in ihre Adoptionsakte geklagt. Gegen das gängige Klischee, die Identitätsbildung sei eine Ableitung der biologischen Eltern, hat der europäische Gerichtshof entschieden, dass das informationelle Selbstbestimmungsrecht eines Kindes sehr wohl seine Grenze an dem informationellen Selbstbestimmungsrecht seiner Eltern, deren Wunsch nach Anonymität, finden kann. Damit entspricht dieses Urteil auch den Erkenntnissen moderne Identitätsforschung; dazu Frau Künning:

"An diese Stelle kann ich nur daraufhinweisen, dass die in den Medien zitierten Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen, die den Babyklappendiskurs entscheidend mitgestalten, keinen repräsentativen wissenschaftlichen Standpunkt vertreten.

Ich zitiere hier die Erziehungswissenschaftlerin Yvonne Schütze, die die These von der gestörten Identitätsentwicklung kritisch beleuchtet, Zitat:

"In keiner der verschiedenen Sozialisation- und Identitätstheorien wird die Kenntnis der biologischen Herkunft zur Voraussetzung von Identität gemacht und empirisch sind gleichfalls Zweifel angebracht, denn Therapeuten und Beratungsstellen sehen immer nur die problematischen Fälle aber nicht diejenigen, die auch ohne Kenntnis ihrer biologischen Herkunft sowohl eine personale, wie eine soziale Identität entwickelt haben d.h. sowohl eine Vorstellung von der Einzigartigkeit ihrer Person haben, als auch die Fähigkeit, sich den sozialen Erwartungen ihrer Umwelt anzupassen.' Zitat Ende."

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aus dem Vortrag von Gabriele Stangel
Vortrag: Gabriele Stangel
Kommentar: Sylvia Zeller und René Talbot
Länge 04:37
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Genauso falsch wie die Unterstellung, Identitätsbildung würde im wesentlichen durch die Kenntnis der biologischen Abstammung entstehen, ist die Pathologisierung und Stigmatisierung der Frau, die sich für eine anonyme Geburt entscheidet beziehungsweise ihr Kind zur Adoption frei gibt.

Frau Gabriele Stangel, Pastorin am Krankenhaus Waldfrieden, hat im Jahr 2000 die erste Babyklappe in Berlin gestartet und seitdem viele persönliche Erfahrungen damit gemacht. Inzwischen gibt es fünf derartige Einrichtungen in Berlin.

Bei einer Veranstaltung der Schwangerenberatungsstelle "Balance" zum Thema Babyklappen am 22. Februar 2006, konnten wir ihren Beitrag aufzeichnen:

"Ich finde, dass Frauen, die ihr Kind abgeben zur Adoption, sehr verantwortungsbewußte Frauen sind, wenn sie sagen, sie können es selber nicht. Ich ziehe den Hut vor solchen Frauen. Ich könnte kein Kind abgeben, dass ich neun Monate in meinem Leib trage, könnte ich nicht, ich persönlich nicht, aber diese Frauen sagen: "Das Kind hat es nicht gut bei mir." Das ist eine reife, sehr verantwortungsvolle Entscheidung, die sie treffen, die ich nur unterstützen kann."

Plastisch schildert Frau Stangel auch eine ganz andere Bewertung von Adoption aus der Sicht eines angenommenen Kindes als eben eines "Wunschkindes":

"Wir haben selber ein Findelkind in der Familie - eine meiner Schwestern hat ein Findelkind adoptiert. Die ist jetzt dreißig, wir wissen, was aus der geworden ist: es ist eine sehr stabile Persönlichkeit, gesund und glücklich, wußte immer, dass sie ein Findelkind ist und ich muss sagen, es gibt eben auch diese Fälle. Es kommt immer darauf an, wie man mit diesen Kindern umgeht, dass man ihnen auch die Wahrheit sagt, das ist eins der wichtigsten Kriterien, dass sie die Umstände ihrer Geburt kennen. Das ist also jetzt 30 Jahre her, da ist man in Österreich noch anders mit der Adoptionen umgegangen als heute. Heute redet man sehr offen darüber - damals war das immer noch komisch. Aber meine Schwester hat da wirklich was Gutes gemacht - das Kind konnte schneller "adoptiert" sprechen, als andere Kinder "Staubsauger" und sie wußte auch, sie ist mit einem guten Selbstbewußtsein herangewachsen.

Als sie im Film einmal eine Sendung über Adoptionen sah, sagte sie nachher: "Habt Ihr Glück gehabt, Mama, mit mir! Den Günther," - ihr Bruder, der 9 Monate später geboren wurde - meine Schwester und Schwager waren nachweislich unfruchtbar - die war bereits 6 Wochen schwanger zu dem Zeitpunkt oder 3 Wochen und hat es nicht gewußt - "den Günther mußtet ihr so nehmen, wie er kam aber mich habt ihr ausgesucht, weil ich so schön war." Da war sie so ein kleiner Pimpf, 4 oder 5 Jahre alt. "Ihr habt mich ausgesucht, ich war Euer Wunschkind. Ihr habt mich gesehen und ihr wart so verliebt in mich!"

Läßt man den Gedanken einer Entkoppelung von leiblich/biologischer Entstehung eines Kindes und der Definition von Elternschaft einmal zu, wie es dieses Kind ganz selbstbewußt für sich in Anspruch nimmt, kommt man an den Kern von Biologismus, Rassismus und vielfältiger Diskriminierung in der Gesellschaft. Dazu Frau Künning:

"In der seit Jahren andauernden Diskussion um die anonyme Geburt, beobachte ich eine unterschwellige Fremdfeindlichkeit, die sich als Besorgnis um die anonym geborenen Kinder tarnt. Ja, wie Sie sicher auch selber schon gelesen haben, wer die Fach- und Zeitschriftenartikel von Gegner und Gegnerinnen der anonyme Geburt aufmerksam liest, wird sehen, wie oft davon die Rede ist, aufgrund ihres Nicht-wissens um ihre Herkunft zu Psychiatriepatienten werden. Kinder, die keine Identität entwickeln können, Kinder, die wie Kasper Hauser sind, also entwicklungs- und kommunikationsgestört.

Dies alles, weil sie fremd sind, weil niemand weiß, wer ihre biologischen Eltern sind und wie ihre genetische Ausstattung beschaffen ist. All diese Zuschreibungen implizieren, dass ein anonym geborenes Kind kein Potential zur Entwicklung seiner Persönlichkeit hat, sondern dass es sich und der Gesellschaft fremd bleibt und Sorgen und Kosten verursacht.

Zwar treffen nicht alle adoptierten Kinder auf so viele Verurteile und Stigmatisierung, doch bei denen, die es besonders trifft, ist es nicht verwunderlich, dass sie glauben, ihr Leid sei durch die Adoption verursacht und dass alles besser würde, wenn sie ihre biologische Eltern fänden."

Sylvia Zeller: Ja, wir haben schon mal darüber geredet, das ist so, wie eine Pflanze, die keine Wurzeln hat… - das ist wiederum ein biologisches Bild: man braucht seine Wurzeln, sonst kann man nicht fest im Boden stehen.

"Ja, genau."

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Musik
Komposition: Matthias Müller
Länge 01:44
Didgeridoo-Musik zum Anhören auf der Website des Komponisten www.didgeridoo-music.ch/media/sound/tribeofsound/mp3/Sounds03.mp3
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Vorschlag zur freiwilligen Elternschaft
Autoren: Sylvia Zeller und René Talbot
Länge 02:25
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Wer kennt nicht die Geschichte von Brechts Kaukasischem Kreidekreis, in der die uneigennützige Liebe einer Mutter zu dem von zwei Frauen beanspruchten Kind zum allein entscheidenden Kriterium für Ihre Mutterschaft gemacht wird?

Ganz ähnlich im Grunde genommen das salomonische Urteil - keine Untersuchung auf Schwangerschaft oder Zeugen der Geburt, sondern nur der Liebesbeweis bei Androhung der Vernichtung des Kindes zählt: in beiden Beispielen wird die Leiblichkeit bzw. biologische „Beschaffenheit“ gerade nicht zur Bestimmung von „Verwandtschaft“ herangezogen, sondern NUR die Beziehung zwischen dem Kind und der so zur Mutter gewordenen Person. Die Forderung, die sich daraus ergibt, heißt modern ausgedrückt: jedes Kind ist adoptiert. Es gibt keine andere Elternschaft außer der freiwilligen, technisch vollzogen etwa durch eine unerzwingbare Unterschrift der Eltern auf der Geburtsurkunde eines Kindes. Sicherlich ginge damit einher, dass leibliche Eltern ein vorrangiges, zeitlich limitiertes Optionsrecht auf „Adoption“ des Kindes hätten, aber andererseits könnten keine Gen- bzw. Chromosomenspender zur Elternschaft gezwungen werden.

In unseren Gesellschaften ist Konsens, dass niemand in eine Ehe gezwungen werden sollte, - wäre es nicht ein vergleichbarer qualitativer Quantensprung, wenn Adoption als definitorischer Regelfall von Elternschaft institutionalisiert würde?
Dem läge die Anerkennung der sozialen Elternschaft als Ergebnis einer individuellen, unerzwingbaren Entscheidung zum Vater- bzw. Muttersein zugrunde, jenseits einer Festschreibung von Geschlechterrollen. Die Fantasie von biologischer Abstammung könnte abgelöst werden durch die Konstitution über Sprache und Kommunikation, unsere Beheimatung in gänzlich unbiologischer Kultur.

Durch dieses Modell der selbstbestimmten Elternschaft, das wir vorschlagen, wäre dann in der Tat jede Zwangselternschaft ausgeschlossen und Sexualität von Elternschaft und Verantwortung für ein Kind entkoppelt. Als willkommener –allerdings antikatholischer - Nebeneffekt würden damit Sexualität und Schwangerschaft von zentralen Ängsten befreit. Die Perspektive, Lust ohne Strafe zu denken, ist Dreh- und Angelpunkt jeder Herrschaftskritik.

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